"Die Vorgänge in der Flüssigkeits-Raketenforschung
sind noch nicht endgültig erforscht."

W. Gluschko, 1981


Hinter dem Eisernen Vorhang ist Sergej Koroljow eifrig damit beschäftigt, der amerikanischen Herausforderung die passende Antwort zu geben.
Er hat die R7 entwickelt, die erste ballistische Interkontinentalrakete.
Aus heutiger Sicht ist diese Rakete nicht nur eine wirkungsvolle ICBM gewesen, sondern auch eine exzellente Trägerrakete für Satelliten, Sonden, Raumschiffe ... nach wie vor sind Nachfolgeversionen für Russland im Einsatz.
Bis 1958 ist die R7 für alle sowjetischen Weltraumflüge benutzt worden und hat auch danach noch lange Jahre ihre Dienste zuverlässig getan.

Koroljow ist auch für die Entwicklung und Überwachung nahezu aller bisherigen Nutzlastprogramme verantwortlich gewesen:
Aus seinem legendären Planungsbüro OKB-1 stammen SPUTNIK, LUNA, die Venus-Sonden VENERA ...
Sein derzeitiges Meisterstück, die WOSTOK-Kapsel, kann sowohl als Spionagesatellit wie auch als bemanntes Raumschiff benutzt werden.


Sergej Koroljow ist natürlich nicht der einzige sowjetische Raketen- und Raumschiffkonstrukteur.
Da ist sein großer Gegenspieler Wladimir N. Tschelomej.

Tschelomej, geboren am 30. JUni 1940 in der Kleinstadt Sedletse, aufgewachsen in der Hauptstadt der Ukraine, Kiew, graduiert 1937 als Triebwerksbau-Ingenieur. 1940 erhält er eine Stelle am Baranow-Zentralinstitut für Triebwerkstechnik in Moskau.
Er hat während des Krieges zahlreiche Triebswerkmotoren entwickelt, zu militärischen Zwecken vorrangig versteht sich. 1944 erreichen ihn die Überreste einer über London abgeschossenen V2-Rakete, der eine ganz ähnliche Technik zugrunde liegt wie die, an der er selbst gerade arbeitet. Der für die Triebwerkstechnik verantwortliche Minister Malenkow unterstützt Tschelomejs Forderung nach dem sofortigen Nachbau der V2. Im September 1944 wird Tschelomej zum Chef von OKB-52 ernannt, drei Monate später ist der erste V2-Nachbau fertig gestellt. Wie Koroljow reist auch Tschelomej nach Deutschland (allerdings unabhängig von ihm), um V2-Raketen und - Forschungsmaterial zu finden.

1955 erhält er von Mastislaw Keldisch, dem Präsident der Akademie der sowjetischen Wissenschaften, den Auftrag für eine neue U-Boot-Serie, die mit Langstreckenwaffen (die spätere Kennung: P-5) bestückt ist.
1959 steigt Tschelomej zum Generalkonstrukteur der Weltraumtechnik auf.
Er entwickelt eine Vielzahl von Langstreckenraketen in den nächsten Jahrzehnten:
P-5D, P-7, P-6, Amethyst, Malachit, Basalt, Granit, Vulkan und Meteorit.

Abb. 7-1 Wladimir Tschelomej Abb. 7-1

Wladimir N. Tschelomej

1914 – 1984
Chefkonstrukteur von OKB 52
"Vater" der PROTON-Trägerrakete
Ihm untersteht das LK-1-Mondumflug-Programm
Plant die UR700 / LK700-Gigantmondrakete
Erbitterter Gegner von Sergej Koroljow

Wladimir Tschelomej ist nicht dumm, er bietet dem Sohn des sowjetischen Präsidenten Nikita Chruschtschow einen Platz in seinem Konstruktionsbüro OKB-52 an - ein guter Schachzug in einem politischen System, wo die Vorteile persönlicher Beziehungen das A und O für das Weiterkommen sind.

Das gilt natürlich auch für westliche demokratische Gesellschaftssysteme,
doch nicht in dem Maße wie in der ehemaligen Sowjetunion.


So ist es nicht verwunderlich, dass Tschelomejs Büro mit Chruschtschows "Segen" das größte Projektbudget aller sowjetischen Büros zukommt.

Einwurf

Vom Entwurf zum bewilligten Projekt:

In der Sowjetunion hat ein sehr starker Konkurrenzkampf geherrscht.
Sobald eine neue Idee in einen Entwurf umgemünzt wird, stellt das zuständige Ministerium einen sehr allgemein gehaltenen Bedarfsdeckungsplan auf.
Dann erhalten verschiedene Institute bzw. Fabriken im ganzen Lande den Auftrag, das Problem von allen Seiten zu beleuchten und miteinander in Wettbewerb zu treten.
Ein Jahr später werden Vertreter aller Konkurrenten in den Kreml nach Moskau zu einer Konferenz eingeladen. Jeder Teilnehmer hat dort 8-10 Stunden Zeit, seine Pläne und Verfahrensweisen vorzutragen.
Wenn es um Raketen und Fernlenkwaffen geht, kann eine Präsentation auch den konkreten Einsatzplan umfassen.
Der Vorsitzende der Versammlung ist entweder ein Offizier im Range eines Generals bei militärischen Sachverhalten oder ein Wissenschaftler bzw. Regierungsbeamter, wenn es um wissenschaftliche bzw. kommerzielle Dinge geht.

Eine solche Versammlung besteht meistens aus über hundert Vertretern aller Ministerien und wissenschaftlichen Organisationen, die mit dem betreffenden Programm befasst sind. Sie hat sich nun tagelang die Vorschläge der verschiedenen Wettbewerbsteilnehmer anzuhören.
Und sie muss nach Abschluss der Präsentationen so lange zusammenbleiben, bis die Entscheidung getroffen ist, wer der Gewinner des Wettbewerbs ist und welches Konzept ausgewählt ist. In der Regel dauert diese ganze Prozedur eine Woche.
Der Gewinner kann danach sofort mit der Arbeit beginnen.

Interessant dabei ist, dass die staatlichen Behörden und Organisationen, die bei solch einer Konferenz nicht anwesend sind, später keinerlei Einspruchsrecht haben; sie dürfen keine Fragen zu dem Projekt stellen, sie dürfen nicht öffentlich intervenieren.

Damit ist verständlich, warum die Sowjets ihre ersten Raketen- und Raumfahrtvorhaben im Eiltempo realisieren konnten.
Nachteilig wirkt sich jedoch, wie die Zukunft zeigen wird, aus, dass die Vielzahl von Versuchs-Konstruktionsbüros, die also nicht nur konstruieren, sondern auch für den Bau der von ihnen entworfene Hardware verantwortlich sind, in einer Art Konkurrenzkampf stehen, der der Sache selbst nicht dienlich ist. Man arbeitet oft nicht miteinander sondern gegeneinander.
Es gibt keine zentrale Führung des sowjetischen Raumfahrtprogramms durch eine staatliche Dachorganisation, die die konkurrierenden Kräfte für ein großes gemeinsames Ziel – wie eine bemannte Mondlandung – bündeln könnte.
Auch das oberste Versuchs-Konstruktionsbüro OKB-1 muss sich diesem komplexen Auswahlverfahren unterwerfen.



Im Nachhinein wird sich herausstellen,
dass die fehlende Zentralisation ein Baustein
im Puzzle der sowjetischen Niederlage beim Mondwettlauf gewesen ist.



Koroljow erkennt dieses Manko der sowjetischen Raumfahrt sehr früh (Anf. 1959).
Er spürt, dass das wachsende Raumfahrtprogramm eine umfassende Reform der Organisationsstruktur erfordert. Die UdSSR bräuchten dringend auch eine der NASA vergleichbare zentrale Institution, um die Kräfte bündeln zu können.
Er schlägt Präsident Chruschtschow deshalb eine zentrale Organisation vor, vergleichbar in etwa mit der heute existierenden Russischen Raumfahrtbehörde RSA.
Der Präsident, mehr an landwirtschaftlichen Fünfjahresplänen denn an Raumfahrt interessiert, lehnt jedoch ab.
Das Raumfahrtprogramm bleibt in den Händen vieler nichtspezialisierter Planungsbüros, von denen viele für verschiedene Ministerien arbeiten.
Koroljow versucht nun das Beste aus der Situation zu machen.
Er delegiert Projekte mit unbemannten Raumschiffen an seine Genossen, um selbst den Kopf für die Weiterentwicklung der bemannten Raumfahrt frei zu haben.



Zurück zu Walentin Tschelomej ...

Er bekommt jetzt einen Verbündeten in seinem, uns schon bekannten Namensvetter Walentin Gluschko, dem Chefkonstrukteur der UdSSR für Raketentriebwerke.


Abb. 7-2 Walentin Gluschko
Abb.7-2

Walentin P.Gluschko
1908 - 1989

Chefkonstrukteur der Raketentriebwerkstechnik
Chef des Gasdynamischen Laboratoriums OKB-456
1974 ersetzt er Wassili Mischin als Chef des OKB-1-Büros
Er ist für die Beendigung des N1-Raketenprogramms verantwortlich.
Erst nach seinem Tod 1989 darf die Wahrheit über das sowjetische Mondprogramm der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.


Gluschko wechselt nach einem heftigen Disput mit Koroljow das Lager; wieder geht es um die Wahl des richtigen Brennstoffes wie einst bei der Entwicklung der R7.
Der Zwist der beiden hat eine lange Vergangenheit; 1937 unter Stalin ist, so Koroljows Version, ein denunzierendes Papier Gluschkos mitverantwortlich dafür, dass Koroljow in ein Zwangsarbeitslager nach Kolyma/Nordsibirien verbannt wird.
So etwas vergisst man nicht so leicht ...
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Koroljow in Gluschkos Büro angestellt.
Beide Konstrukteure geraten über dem R7-Projekt aneinander.
Als Brennstoff möchte Koroljow schon damals die zukunftsweisenden kryogenen Brennstoffe (Flüssigwasserstoff und -Sauerstoff) verwenden - ein weiteres Zeugnis für seine Weitsicht:


Bis heute werden flüssiger Wasser- und Sauerstoff als Brennstoffe für Raketentriebwerke benutzt.

Aber Gluschko setzte seine Vorstellungen durch. Die R7-Triebwerke sind mit hochgiftigen hypergolischen Chemikalien, die sich bei Kontakt entzünden, betrieben worden. Das gilt auch für die PROTON-Baureihe, auf die wir noch zu sprechen kommen.

Nun befürwortet Koroljow wieder eine Flüssig-Wasserstoff/-Sauerstoff-Kombination - wie es die Amerikaner bei der SATURN-Trägerrakete tun werden
Gluschko bleibt jedoch bei seiner Meinung:
Seine Einschätzung " flüssiger Wasserstoff würde nie eine praktische Rolle in der Raketentechnik spielen" wird er später revidieren müssen.
Jetzt führt der Disput zum schweren Zerwürfnis.

Der geniale Triebwerkskonstrukteur geht fortan eigene Wege, er schaut sich nach gleichgesinnten Partnern um und findet ... Wladimir Tschelomej.

Schnell liiert Gluschko sein Gasdynamisches Laboratorium GDL mit Tschelomejs OKB-52.


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Letztes Update dieser Seite am 04.04.2004

Kapitel 7

Sowjetische Ränkespiele und erste Mondprojekte