Geschichten der Nacht # 48

"Der Fluch von Barnabas-Hall "

von

Christian Spließ
("Prospero")

Ein Romantic Thriller

ist
am 10. März 2005
erschienen.

Cover GdN 48


Inhalt:

Die Architektin und Raumdesignerin Susan Wahidie besucht das Anwesen der Gebrüder Colin und Edward Barnabas. Neben den beiden wohnt in Barnabas-Hall noch der Gutsverwalter Oliver Nujoc.
Der riesige Komplex soll zu einem Hotel ausgebaut werden. Als die Besichtigung des altehrwürdigen, hunderte von Jahre alten Familiensitzes nach eineinhalb Stunden beendet ist und Susan die Heimfahrt antreten will, muss sie feststellen, dass ihr Auto nicht anspringt. Der Mechaniker kann erst am nächsten Tag kommen, und so bietet Colin ihr die Übernachtung in Barnabas-Hall an.
Dummerweise für Susan, angenehmerweise für den Leser jährt sich in dieser Nacht der tragische Tod von Isabell, einer jungen Frau, die sich vor Jahrhunderten in einem nahen Sumpf verirrte. Ihr heimlicher Liebhaber war ein Gefangener ihres Vaters und wurde später von den Druiden geopfert ... Druiden, deren Nachfahren die Barnabas sind ...
Die rechten Voraussetzungen also für Nightmares, und Susan träumt in der Tat sehr schlecht ...


Leseprobe: 1. Kapitel

Die Steinmauern warfen lange Schatten an diesem warmen Frühlingstag. Efeu rankte an den breiten massiven Mauern empor; einige Weinreben hatten es bis unter die Fenster des ersten Stocks geschafft, und ihre knorrigen verdrehten Stämme entwickelten die ersten Knospen. Das Dach war von einer seltsamen graugrünen Färbung, zahlreiche Giebel sprangen in die Leere hervor. Jeweils sechs Fenster waren im ersten und zweiten Stockwerk zu sehen, regelmäßig übereinander angeordnet. Nur im dritten hatte man diese Symmetrie durchbrochen. Dort gab es nur drei Fenster, das mittlere von ihnen groß und rund, die anderen etwas kleiner als ihre unteren Pendants. Offenbar hatte sich dort einst der Speicher befunden, der dann ausgebaut worden war. Die weißen Gardinen in den Fenstern schlugen steife Falten.

Es war doch etwas anderes, dachte Susan Wahidie, wenn man einem Gebäude, noch dazu einem von diesen gigantischen Ausmaßen, persönlich gegenüberstand oder es nur von Grundrissen, Skizzen und Photographien kannte. Auf den Bildern hatte das Anwesen idyllisch gewirkt, doch als sie jetzt nähertrat überkam sie ein Frösteln. Sie blieb stehen, starrte die Fassade empor und war froh, dass sie nur wenige Stunden in diesem Gebäude verbringen würde.

Sie setzte sich erneut in Bewegung; unter ihrem Arm klemmte die Aktentasche mit den notwendigen Papieren. Im Sharan, den sie auf dem Platz etwas unterhalb des Anwesens geparkt hatte – direkt neben einem Landrover und dem funkelndem schwarzem Bentley, mit dem Colin Barnabas immer vor ihrem Büro vorgefahren war. Im Gegensatz zum Sonntagsfahrten-Bentley hatte der Landrover dreckbespritzte Seiten, und die Räder sahen aus, als hätten sie sich schon etliche Male durch schlammige Landwege gewalzt. Das erinnerte sie wieder einmal an die Größe des Anwesens und die Rolle, die die Familie Barnabas in der Geschichte der Region gespielt hatte. Vor langer, langer Zeit.

Die Haustür war jünger, als das Gebäude selbst; das helle Holz verriet es. Nur ein bronzener Türklopfer in Gestalt eines Löwen war wohl ein Überbleibsel aus der alten Zeit. Sie widerstand der Versuchung ihn zu benutzen und drückte stattdessen die Klingel. Die ersten Takte von „Land of Hope and Glory“ drangen gedämpft an ihr Ohr, kurz danach öffnete sich die Tür und sie stand einem älteren, gesetzt wirkendem Herrn im schwarzen Frack gegenüber. Dies musste Onslow sein, einer von zwei Butlern, die die Familie noch in ihren Diensten hatte. Colin Barnabas hatte es bei ihren Gesprächen in ihrem Büro gelegentlich erwähnt.

„Sie wünschen, bitte?“
„Mein Name ist Wahidie, ich habe einen Termin bei Mr. Barnabas.“ Der Butler verzog keine Miene, trat von der Tür zurück und ließ sie eintreten. „Ich werde Mr. Barnabas von ihrem Erscheinen unterrichten.“
„Vielen Dank,“ sagte Susan und kam sich, nachdem der Butler verschwunden war, im großen Eingangsbereich etwas verloren vor. Dazu kam, dass der Raum etwas Steriles ausstrahlte – es mochte an den blendend weißen Tapeten liegen, an dem edlen Steinboden, der ihr Spiegelbild verschwommen wiedergab, oder auch an der Tatsache, dass außer einer Sitzgruppe, die offenbar aus den 80-er Jahren stammte und nicht sehr einladend aussah, der Bereich unbewohnt wirkte. Es hätte sie nicht allzusehr überrascht, wenn sie in einer Ecke einen vertrockneten Gummibaum gesehen hätte ...

Sie schlenderte zur Sitzgruppe herüber und warf einen Blick auf die Zeitschriften und Zeitungen, die ordentlich jeweils auf einem Haufen für sich übereinanderlagen. Unter ihnen befanden sich neben dem Times-Magazin, der New-York-Times, der Vogue - die offenbar jemand ernstlich studiert hatte, da handschriftliche Vermerke an den Rand von Artikeln gekritzelt worden waren – und anderen auch zwei offenbar chinesische oder japanische Zeitungen - sie kannte sich mit den Schriftzeichen nicht so sehr aus - und etliche Computerzeitschriften. Die letzte aktuelle Ausgabe von Wired wies wieder Notizen auf; sie meinte, die Handschrift von Mr. Barnabas zu erkennen, war sich aber nicht ganz sicher. Sie blieb an einem Artikel aus der regionalen Zeitung hängen, der sich mit seltsamen Vorkommnissen in der Grafschaft beschäftigte. In den letzten Tagen waren etliche Rinder und Schafe angefallen worden; der Zoo bestritt, dass aus dem Wolfsgehege ein Tier entkommen sei, die Polizei hatte das Gelände eines Tierfreundes durchsucht. Wölfe? Susan runzelte die Stirn.

„Miss Wahidie, schön, dass Sie gekommen sind.“ Die Stimme von Colin Barnabas war wie immer sonor und freundlich, als wäre sie eine Verwandte, die man gerne auf einen Sprung vorbeikommen sieht. Das war ihr schon im Büro aufgefallen. Sie legte die Zeitung auf den Tisch und wandte sich ihrem Klienten zu.

Für einen Mann von etwa 30 Jahren sah Colin Barnabas älter aus, als er eigentlich war. Die schwarzen Haare zeigten hier und da einen Anflug von Grau und unterstützten die Wirkung seines prägnanten Gesichtes. Wie immer trug er einen Siegelring an der rechten Hand, und wie immer hatte er auch jetzt seinen Spazierstock mit dem versilberten Knauf in Form eines Pferdekopfes fest im Griff. Dass er diesen stets nur für kurze Zeit aus der Hand legte, wertete sie als eine Marotte, die einem wohlhabenden englischen Gentleman zustand. Sie erwiderte seinen starken Händedruck und folgte ihm, als er sie durch den Eingangsbereich in das Innere des Hauses führte. Einen Augenblick lang hatte sie den Eindruck, dass sie beobachtet wurde, aber als sie sich für einen kurzen Moment umdrehte, wirkte der Eingangsbereich immer noch verlassen und einsam.

Nachdem sie durch dunkle Gänge und Korridore geschritten waren - ein paarmal hatte Susan das Echo ihrer Schritte gehört und unwillkürlich lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken - erreichten sie das Arbeitszimmer von Mr. Barnabas.
Hier brannte trotz des warmen Tages ein Feuer im Kamin, „leider eine Notwendigkeit, sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass die Winterkälte noch in den Mauern sitzt“. Angesichts der Dicke der Mauern und der Größe des Anwesens konnte sich das Susan sehr wohl vorstellen.

„Bitte, legen Sie doch ab.“

Nachdem Susan das getan hatte, setzten sich beide an den breiten Mahagoni-Schreibtisch, offenbar ein Erbstück aus viktorianischen Zeiten. Wie aufs Stichwort trat Onslow in den Raum, stellte ein Tablett mit Tee und Gebäck zwischen ihnen auf und verschwand dann wieder so leise, wie er gekommen war. „Bitte, bedienen Sie sich. Nach der langen Fahrt hierher tut Ihnen der Tee sicherlich gut. Zumindest ist es bei mir stets der Fall.“

„Danke, Mr. Barnabas.“ Sie goss sich den heißen Earl Grey in ihre Tasse und nahm ein Plätzchen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich von London bis hierher knapp drei Stunden brauchen würde.“
„Und dabei haben Sie noch Glück gehabt. Für gewöhnlich sind um diese Zeit etliche Staus auf dem Weg hierher. Manchmal bedauere ich es, dass meine Vorfahren sich nicht näher bei London angesiedelt haben. Es würde etliche Dinge enorm erleichtern. Dafür entschädigt allerdings die Landschaft – Sie sollten unbedingt ein freies Wochenende hier verbringen.“
„Vielleicht ergibt sich demnächst die Gelegenheit für eine Landpartie,“ sagte Susan, „wenn denn ihr Entschluss, aus dem Gebäude ein Hotel zu machen, noch steht.“
Mr. Barnabas stellte seine Tasse ab. Er seufzte.

„Ja, mein Entschluss hat noch Bestand. Als ich das Erbe antrat, dachte ich noch, dass es mir vielleicht möglich wäre, das Anwesen komplett aus eigenen Mitteln zu unterhalten. Aber sie wissen ja, wie riesig die gesamte Anlage ist. Glauben Sie mir, ich habe etliche schlaflose Nächte hinter mir, aber es gibt keinen anderen Weg, den ich beschreiten könnte. Wie mein Vater es geschafft hat, das Anwesen halbwegs auf diesem Level zu halten, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Nun, Sie werden die restlichen Räume ja heute noch zu Gesicht bekommen, dann können Sie sich selbst ein Bild davon machen.“
„Es könnte allerdings sein, dass auf Sie enorme Kosten zukommen,“ gab Susan zu Bedenken.
Er seufzte nochmals. „Ja, natürlich; ich habe mich schon mit den Banken in Verbindung gesetzt. Momentan steht einem größeren Kredit nichts im Wege; der Ruf meiner Familie hat ab und an auch etwas für sich. Aber ich möchte Sie nicht mit diesen Dingen belästigen. Trinken Sie in Ruhe Ihren Tee aus, ich muss noch ein Telefonat führen, dann zeige ich ihnen den Teil des Anwesens, um den es in erster Linie geht.“ Er stand auf und verschwand durch eine Seitentür.
Selten hatte Susan einen Klienten gehabt, den sie sympathisch fand. Mr. Barnabas gehörte mit seiner etwas altmodischen Art und Weise zweifellos dazu. Ich hoffe nur, er übernimmt sich nicht. Wenn es nicht funktioniert, wird er wohl das Haus verkaufen müssen.

„Colin, ich verlange eine Erklärung ...“
Der Mann, der in vollem Galopp in das Arbeitszimmer gestürmt war, stutzte, als er Susan sah, verlangsamte seinen Schritt und versuchte, seinem Gesicht einen gelassenen Ausdruck zu geben.
„Oh, entschuldigen Sie. Ich wußte nicht, dass er Besuch hat.“
Sie wußte im ersten Moment nicht recht, wie sie reagieren sollte, stand dann auf, ging auf ihn zu und reichte ihm ihre Hand. Jetzt sah sie erst, wie verblüffend ähnlich er Mr. Barnabas war. Sicher, das Gesicht war eine Spur länglicher, die Lippen etwas fleischiger und seine kurzgeschnittenen Haare verliehen dem Fremden einen militärischen Look. Doch die Gesichtszüge verrieten, dass er zu den Barnabas' zu zählen war.
„Susan Wahidie, Architektin und Raumdesignerin.“
Sein Händedruck war fest.
„Edward Colins] . Ich habe einiges von Ihnen gehört.“
„Hoffentlich nur Gutes.“ Er lächelte. Sein Gesicht wirkte auf einmal nicht mehr so streng wie zuvor. „Nun, mein Bruder war voll des Lobes über ihre Arbeit.“
Susan versuchte sich daran zu erinnern, ob Mr. Barnabas jemals ein Wort über seinen Bruder verloren hatte? Nein, das hatte er nicht: aber natürlich gingen die familiären Angelegenheiten ihrer Klienten sie ja auch nichts an.
„Das hört man gerne. Wenn Sie ihren Bruder sprechen möchten ...“
Er schüttelte den Kopf. „Was ich mit ihm besprechen möchte, ist eigentlich nicht so dringend. Bestellen Sie ihm nur, dass ich heute abend in der Bibliothek auf ihn warte.“
Nicht so dringend? Das klang gerade eben aber anders, dachte Susan. „Ich richte es ihm aus.“
„Vielen Dank.“

Gerade als Edward die Tür hinter sich geschlossen hatte, betrat Colin Barnabas erneut den Raum.
„Ich soll Ihnen etwas von Ihrem Bruder ausrichten. Er wartet heute abend in der Bibliothek auf Sie,“ kam Susan ihrer Botenpflicht nach.
„Edward war hier? Hat er Sie belästigt?“
Colins Augen hatten sich bei der Erwähnung seines Bruders verengt, und sein Blick gewann etwas Stechendes, das aber sogleich wieder verschwand.
„Belästigt? Aber nein, er war ausgesprochen liebenswürdig.“
Colin entspannte sich sichtlich.
„Mein Bruder ist ab und an etwas – schwierig.“ Ich würde gerne wisse, wie er das Wort schwierig definiert, dachte sie. Nach dem, was sie eben erlebt hatte, schienen sich die Brüder nicht gerade grün zu sein – aber das war wirklich nicht ihre Angelegenheit; sie war hier, um ihren Job zu machen. Daran schien sich Colin auch zu erinnern. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt den Rest des Anwesens. Ich denke, das wird ungefähr eineinhalb Stunden dauern – dann können Sie heute abend noch zurück in die Stadt fahren. Alles weitere besprechen wir dann zu zivileren Tageszeiten in ihrem Büro.“

Anderthalb Stunden später stand Susan mit schmerzenden Füßen vor der Haustür. Der Wind hatte etwas aufgefrischt und sie genoss die kühle Brise auf ihrer Haut. Nach all den Gängen, Korridoren, verwinkelten Ecken und ausladenden Räumen brauchte sie etwas frische Luft. Mr. Barnabas hatte mit seiner Behauptung nicht untertrieben: Das war kein Anwesen, das war fast schon ein kleiner Palast.

Die Räume, die sie zu sehen bekommen hatte, waren glücklicherweise allesamt in einem guten Zustand; das war die gute Nachricht, die sie Mr. Barnabas auf dem Weg zum Auto erzählen konnte. Natürlich mussten sie dennoch etwas hergerichtet werden. Ddas würde länger dauern, als sie sich beide gedacht hatten – was die schlechte Nachricht war. Eine Hoteleröffnung im nächsten Jahr war eher unwahrscheinlich. Sie konnte Mr. Barnabas durch die langen Vorgespräche etwas einschätzen und wusste, dass er vermutlich die entsprechende Geduld aufbringen würde. – Die Frage war, ob die Banken das auch tun würden.

„Wunderschön, finden Sie nicht?“ Mr. Barnabas war geräuschlos an ihre Seite getreten. Sein Blick schweifte über die hügelige grüne Landschaft, die ab und an durch kleine Gehölze unterbrochen wurde. Ein Schäfer trieb seine Herde über die breite Zufahrtsstraße, Hunde bellten. Die letzten Strahlen der Sonne erhellten den Himmel mit einem feinen Rotton. Über allem lag ein tiefer Frieden.

„Ja,“ stimmte Susan ihm zu, „es ist wirklich schön hier.“ Sie atmete mehrmals tief ein und aus. „Was die Räume angeht ...“
Er winkte ab.
„Bei einem solch schönen Abend sollte man nicht an das Geschäft denken,“ sagte er lächelnd.
Beide legten schweigend den Weg zu Susans Sharan zurück. Dann reichte Mr. Barnabas ihr seine Hand und verabschiedete sie. „Sie sollten wirklich einmal ein Wochenende hier verbringen, Sie wären hier jederzeit willkommen.“
„Danke, Mr. Barnabas,“ sagte Susan und öffnete die Wagentür. „Ich werde darüber nachdenken.“ Sie meinte, was sie sagte.
„Auf Wiedersehen.“
Sie schlug die Tür zu, schnallte sich an, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Ein leichtes Knacken erklang. Nicht das gewohnte Geräusch, das der Motor veranstaltete bevor er auf Touren kam. Sie runzelte die Stirn, versuchte es nochmal. Wieder dieses leichte Knacken. Sie wiederholte die Prozedur mehrere Male: Schlüssel aus dem Schloss Anlasser rausziehen, reinstecken, umdrehen, knack. Mr. Barnabas klopfte gegen das Fenster. „Haben Sie Probleme?“

Sie öffnete die Tür.
„Er will einfach nicht anspringen. Ich weiß nicht, was los ist.“
„Vielleicht die Batterie?“, schlug er vor. „Lassen Sie mal hören.“
Sie drehte wieder den Schlüssel um. Erneut erklang das Knacken, das so klang, als hätte sie mit voller Wucht auf einen kleinen Ast getreten.
„Hmm – das sieht nicht gut aus, ich fürchte, ihr Anlasser ist defekt. Ich bin natürlich kein Fachmann. Ich werde Oliver bitten, dass er sich den Wagen ansieht.“
Oliver, Oliver, Oliver, grübelte sie, bis es ihr wieder einfiel. Oliver Nujoc] , natürlich, der Gutsverwalter, wenn Mr. Barnabas außer Landes war. Jetzt war ihr auch klar, wem der Landrover gehören musste, der immer noch neben dem Bentley stand.

„Allerdings,“ fuhr Mr. Barnabas fort, „kann es eine Weile dauern. Mr. Nujoc ist wegen geschäftlicher Angelegenheiten in der Stadt und wird erst gegen Abend zurück sein. Sie sind natürlich bis dahin mein Gast.“
„Unsinn, ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen“, sagte sie und griff zu ihrem Mobiltelefon. „Sicher gibt es im Dorf, durch das ich gefahren bin, eine Werkstatt.“
„Die gibt es in der Tat, Miss Wahidie, aber ich befürchte, Sie werden den alten Ernie wohl kaum dazu überreden können, jetzt noch loszufahren.“
„Wieso?“, wollte sie wissen. „Das Dorf ist doch nur eine knappe Stunde entfernt .“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich kann Ihnen natürlich gerne die Nummer vom alten Earl geben, aber glauben Sie mir, das ist verlorene Liebesmüh. Seitdem die Sache mit den Schafen passiert ist ...“
„Sie meinen diese angeblichen Wölfe?“, fragte Susan, der vor ihrem inneren Auge die Schlagzeile des betreffenden Zeitungsartikels erschien.
Mr. Barnabas nickte. „Ich kann es ihnen auch nicht verübeln: schließlich ist Barnabas-Hall in der Nacht nicht gerade der belebteste Ort der Gegend. Seien Sie vernünftig. Warten müssten Sie in jedem Fall, warum nicht gleich auf Mr. Nujoc?“

Susan schüttelte den Kopf. Sie konnte einfach nicht glauben, dass jemand im 21. Jahrhundert wegen einigen seltsamen Todesfällen bei Schafen und Rindern nicht durch die Dunkelheit fahren wollte.
„Aber es ist doch nur eine Stunde Fahrt bis hierher.“ Die Stimme des Mechanikers, der sich am Telefon mit Earl Warren vorgestellt hatte, zeichnete sich durch einen Anklang der offenbar ortstypischen Mundart aus.
„Mein Bedauern, Miss, aver ich fahr halt nich' um diese Stund' zum Anwesen raus. Müssen Se schon verschtehn, ich könnt' sowieso nichts maache, wenn der Anlasser hin ischt.“
Susan verfluchte sich dafür, dass sie das erzählt hatte. „Und was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach nach tun?“, fragte sie scharf.
„Ischt denn der Mr. Nujoc nich' daa?“
„Nein, der ist momentan nicht da,“ gab sie ärgerlich zurück. „Deswegen habe ich Sie doch angerufen.“
„Aah so. Ja, dann warten Se doch auf den, und wenn's bisch morjen immer noch nich' klappt, dann hol' ich Se auch gerne von da ab, gelle? Aver nich' mehr heut abend.“ Sprach's und legte auf.
Sie schnappte nach Luft. „Unglaublich,“ entfuhr es ihr.

Mr. Barnabas war so klug, sich mit einer Bemerkung darauf zurückzuhalten. Stattdessen schloss er die Tür des Sharans und ging einige Schritte voraus. Susan blieb nichts andere übrig als ihm zu folgen. Jetzt, in der anbrechenden Dämmerung, wirkte das Anwesen wie ein großes träges Raubtier, das nur darauf wartete sie zu verschlingen. Unsinn, das sind die Nerven, dachte sie und schob den Eindruck beiseite.


Impressum:

GdN #48 ist ein nichtkommerzielles Fanzine des TCE (Terranischer Club EdeN).
GdN #48 erscheint am 10. März 2005.
Umfang: 28 Seiten - Auflage: 40Exemplare - Einzelpreis: 2,10 € plus Versand
Text: Christian Spließ / Coverlayout: Joe Kutzner

Geschichten der Nacht erscheinen in der Regel vierteljährlich;
ein Abo über 4 Ausgaben ist zum Preis von 16 € erhältlich.

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Letztes Update dieser Seite am 12.03.2005