Geschichten der Nacht # 59
PROFESSOR
ZAMORRA
"Tao-Tie, Herr von Shanghai "
von
Christiane Lieke
("Wintermute ")
Ein Professor Zamorra--Roman
Cover & Illustrationen:
Christiane Lieke
Juni 2008 |
|
Es reizte Christiane Lieke, die wir aus vielen GdN-Romanen
als Meisterin der Phantastik kennen, sich einmal als Autorin im Universum
der Professor Zamorra-Serie zu versuchen.
Eine der Hauptpersonen ist natürlich der Professor
für Parapsychologie selbst, der mit seiner Geliebten Nicole einfach
nur Urlaub in Shanghai machen möchte. Er hieße nicht Zamorra, wenn
es nicht anders käme ...
Direkt aus der Hölle kommt die Dämonin S’zura
Akromantis, im Auftrag von Calderone, dem
Ministerpräsidenten der Hölle unterwegs, und trifft auf
die "Phalanx", die ihr mächtige Zahn- und andere Schmerzen bereitet
Dann sind da noch die beiden Herren Tao-Tie-San, Boss
von Shanghais Triade, der "Vereinigung der schwarzen Drachen",
der "ehrenwerten Gesellschaft" der Stadt ... und der Magier Dao Huang-Lung,
hinter dem eine unbekannte Macht steht, die den Teufel aus der Hölle
vertreiben will.
Leseprobe:
Nach ungezählten Stunden spannungsvollen Wartens wurde das
rhythmische Kratzen wieder lauter, während es sich mit qualvoller
Langsamkeit annäherte. Ein Feld diffuser Schwärze füllte
die nahezu gleichförmig runden Wände des Schachtes aus,
der in geradezu unendliche Tiefe abzufallen schien. S’zura
wartete voll Ungeduld und wachsendem Missbehagen auf die Ankunft
des furchtlosen Boten; etwas tief in ihrem Inneren ahnte, dass er
auf halber Strecke umkehren musste, ohne das grauenhafte Geheimnis
ergründen zu können. Manchmal glaubte sie das rötliche
Glimmen seiner Augen zu sehen, die sich wie träge Glühwürmchen
nahe der glatt polierten Wand des Schachts bewegten. Mit einem gedämpften
Schnauben presste sie den Atem aus ihren Nüstern, die langen
Krallen ihrer Klauen bewehrten Hände bohrten sich tief in das
Fleisch ihrer Ballen. Der scharfe Schmerz, der sie im grellen Aufflackern
durchzuckte, währte zu kurz, um den schrecklichen Druck der
Erwartung zu mildern.
Endlich hatte der Späher das in dämmrig rötliches
Licht getauchte Rund erreicht. Fast zu Tode erschöpft kämpfte
er keuchend um jeden Zentimeter, sich mit Hilfe seiner spitzen Krallen
zurück in den verwüsteten Raum zu ziehen. Die Augen in
dem entsetzlich bleichen, verzerrten Gesicht drohten vor Anstrengung
aus den Höhlen zu springen. Aber der feurige Funke war in ihnen
erloschen. Ohne Anstalten zu machen, ihrem Diener behilflich zu sein,
beobachtete sie, wie er sich mit letzter Kraft aus der Öffnung
wuchtete. Kaum war ihm dieser Kraftakt geglückt, knickten seine
vor Schwäche zitternden Arme ein. Der Bote fiel besinnungslos
auf den Rücken.
S’zuras Blick huschte über die wie in die Wände gefräste
kugelförmige Wölbung und den mit Gewebefetzen und Blutspritzern
bedeckten Boden zum Eingang der schrecklichen Röhre zurück.
Der Diener lag völlig bewegungslos. Sie hätte noch über
seinen Tod hinaus in sein ersterbendes Hirn eindringen können.
Allein sein Zustand war beredter als jeder gestammelte Erlebnisbericht.
Sein einst feuerrotes struppiges Haar glich in der Wüstensonne
verdorrtem Gras, seine zerlumpte Lederkleidung und seine ungeschützte
Haut waren mit unzähligen winzigen Brandlöchern übersät.
So tief lagen die geschlossenen Augen in ihren mit dünner Haut überspannten
Höhlen, dass sie glaubte, sein Fleisch sei regelrecht ausgetrocknet
worden. Eine Macht von gewaltiger Stärke hatte die Lebensenergie
aus seinem Körper gesogen, während er im blinden Gehorsam
gegen alle Schmerzen seinen Auftrag erfüllte ... und dennoch
dabei scheiterte.
Sie erlöste ihn von seinen Qualen, indem sie ein stroboskopisch
helles Blitzen aus ihren ausgestreckten Fingerspitzen in seinen Körper
entlud. Sein regloser Leib zerfiel innerhalb eines Lidschlages zu
gräulichem, federleichtem Staub.
Es bleibt mir keine andere Wahl, dachte sie schaudernd, ich muss
selbst hinunter, weil der Ministerpräsident mir befohlen hat,
der Sache auf den Grund zu gehen. Sie hatte genug Gelegenheiten erlebt,
die ihr eindringlich bewiesen, dass weder Tod noch das Argument der
reinsten Vernunft seinen Entschluss erschütterten. Obwohl sie
es während ihres im Verhältnis zur theoretischen Unsterblichkeit
kurzen Daseins zu Einfluss und bescheidener Macht gebracht hatte,
ahnte sie, dass jedes Zögern zwecklos war. Je höher man
in der Hierarchie aufstieg, desto größer waren die Bedrohungen,
denen diese Macht ausgesetzt war. Gebot sie dem, was in der Tiefe
vor sich ging, keinen Einhalt, würde es fortfahren, ihre Untergebenen
und mit ihnen die anderer Clanführer auszulöschen und sich
schließlich die höchsten und Stärksten unter ihnen
holen. Ob sie in dem tiefen Schlund dieses Dings oder im Palast des
Ministerpräsidenten ihr wertloses schwarzes Leben aushauchte:
Die erste Alternative ließ ihr die Illusion, selbstbestimmt
handeln zu können. Zersetzende Furcht senkte sich in ihr Herz.
Einige Augenblicke stand sie einfach nur da und dachte verzweifelt
an den, der vom Thron des Ministerpräsidenten gestoßen
worden war. Die unvernünftige Hoffnung, er hätte einen
Weg gefunden zu überleben, gab ihr schließlich den Mut
ein, selbst den Abstieg zu wagen. Wenn sie daran Teil haben konnte,
ihm seine alte Macht wiederzubeschaffen, war dies ein Ziel, das jeden
persönlichen Einsatz wert war. Nicht wenige Dämonen der
Hölle beantworteten die Frage nach der Existenz Satans mit einem
Schulterzucken. Ihnen fehlte jeder Glauben und jede Überzeugung,
die sie zu etwas anderem befähigten als blindwütigem Eigennutz.
Die dolchartigen Zähne fest zusammengepresst, starrte sie in
das lichtlose Innere. Ihrer Berechnung nach war der dienende Geist
mehr als 10.000 Fuß weit in die Tiefe vorgedrungen. Mit einem
grollenden Aufschrei, der beinahe einem Stoßgebet glich, sprang
sie, ohne die Vorkehrungen ihres Dieners zu treffen, einfach in die
Tiefe. Die ledernen Flügel dicht an sich gepresst, ließ sie
einen schwarzmagischen Schutzschirm um sich herum aufgleißen,
an dem sich das zersetzende Wirkungspotenzial harmlos brach. Sie
flehte in drei Satans Namen, dass er lange genug hielt, um tief genug
in die Höhle der verborgenen Bestie einzudringen. Ihr dunkles
Herz hämmerte wie ein Presslufthammer gegen die drangvolle Enge
ihrer Rippen. Während sich der Sturz der bodenlosen Tiefe entgegen
beschleunigte, war es ihr, als entriss ihr der Sog des Fahrtwinds
den Atem.
Mit einem Seufzer strich Nicole über die glatte geschuppte
Haut des Echsenköpfchens. Voll Wohlbehagen dehnte das Geschöpf
seinen muskulösen Hals, damit sie es unter dem Kinn kraulen
konnte. Stundenlang konnte es so im herrlichen Zwielicht seines baumüberschatteten
Ruheplätzchens ausharren: das schweifgeschmückte Hinterteil
in der Sonne, die Vorderpfoten auf die angenehm kühlen Basaltplatten
des Weges gestützt im Schatten. Die junge Frau spürte eine
gewisse Unruhe in sich, da der Flieger in Paris pünktlich um
19:32 Uhr auch ohne sie und ihren Gefährten - trotz klangvollen
Namens und vorauseilenden Ruhmes - starten würde.
„Nehmt ihr mich mit?“ Der junge Drache öffnete ein klares
Krokodilauge und betrachtete sie blinzelnd.
„Du weißt, dass das nicht möglich ist. Leider wird die Osterweiterung
der EU wohl nicht so weit gehen, dass auch China aufgenommen wird. Es würde
die Einfuhr von Haustieren“, sie lachte glockenhell auf, „zwar
enorm erleichtern. Außerdem wiegst du entschieden mehr als die vorgeschriebenen
fünf Kilo Handgepäck, was leider eine Reise im Gepäckabteil
bedeutet.“
Das Reptil stieß ein hörbar beleidigtes Zischen aus und
machte Anstalten, sich schwerfällig am Boden herumzuwälzen
und ihr ein mit gezackten Hornplatten gepanzertes Hinterteil zuzuwenden.
„In acht Tagen sind wir ja zurück. In Ordnung?“
Ein undeutliches Grunzen war die Antwort. Na schön, dachte Nicole
erleichtert, dass ihr diesmal ausgreifendere Diskussionen mit ihrem
Hausgenossen aus dem Drachenreich erspart blieben. Obgleich Drachen
im fernen China in Mythologie und Kunstgeschichte einen geradezu
einschlagenden Eindruck hinterlassen hatten, würde es seine
Laune nicht heben, festzustellen, dass sich diese Geschöpfe
allesamt durch Eleganz und Leichtigkeit auszeichneten. Diese Eigenschaften
gingen Fooly bedauerlicherweise weitgehend ab. Nicole hatte keinerlei
Interesse daran, ihn zu weiteren Flugversuchen zu animieren, die
er statt im weitläufigen Anwesen mit Vorliebe in einem der Salons
absolvierte.
„Nicole, ma chère“, rief die strahlende Gestalt zwischen
den herabhängenden Zweigen einer gewaltigen wunderschönen Blutbuche, „ich
möchte dich ja nicht drängen ...“ Er tippte mit dem Nagel seines
Zeigefingers auf das Ziffernblatt seines Breitling-Chronographen. „Aber
im Gegensatz zu unserem Fahrer hebt unser Flieger auch ohne saumselige Fluggäste
ab.“
„Mon dieu!“, stieß Nicole aus, während sie auf zierlichen
roten Hacken auf ihn zujagte, „ich habe ganz vergessen, mein neues Kostüm
von Dior einzupacken. Sag dem Fahrer, er solle sich nur noch fünf Minuten
gedulden!“
Es gelang ihm, sie mühelos in ihrem Lauf abzufangen und zog
sie mit einer fließenden Bewegung an sich, sodass ihr kurzer
schwingender Rock aus leuchtendroter Seide wie die gekräuselten
Blätter des Klatschmohns erblühte. Er versetzte ihr einen
liebevollen Klaps auf die Rundung ihres festen Batzens, der einladend
darunter hervorblitzte. „Nur fünf Minuten! Ich möchte
uns beide ersparen, im Taxi nach Shanghai zu fahren.“ Obgleich
er ein ausgezeichnetes Auskommen hatte, hütete sich Zamorra,
sie auf die luxuriösen Shopping-Malls der östlichen 14-Millionen-Metropole
aufmerksam zu machen. Zu diesem Zeitpunkt gönnte er sich noch
einen hoffnungsvollen Gedanken an die Möglichkeit eines ungestörten
Ferienaufenthalts. Die Hoffung - dieser Leitsatz hätte zur Maxime
seines Lebens werden können - stirbt stets zuletzt.
S’zura spürte, wie ihr Körper im Fall beschleunigte
und sich der Sturz in eine rasende ungebremste Ekstase steigerte.
Trotz des magischen Prallfeldes drohten ihr die Sinne zu schwinden,
während sich in ihrem Herzen die Glut selbstzerstörerischer
Rachsucht langsam ausbreitete. Es war ihr, als wuchsen ihre Kräfte
proportional zum ungeheuerlichen Tempo ihrer Reise ins Ungewisse.
Jener hinterhältigen Kraft, die von einer Dimension unterhalb
der Hölle hochge-drungen war, war es mühelos gelungen,
Schächte unvorstellbaren Ausmaßes in die metaphysischen
Schichten zu treiben. Jetzt war es zu spät, umzukehren oder
die Folgen des Handels zu überdenken, das ihren Körper
in ein lebendiges Projektil verwandelt hatte. Mühsam atmend
presste S’zura die Augen zusammen und hoffte mit allen Fasern
ihres Seins, wenn sie nicht in der Lage war, lebend aus dieser Zusammenkunft
hervorzugehen, mit ihrem Ableben ein Fanal zu setzen, das die Fundamente
der Hölle erschütterte und die verhängnisvollen Durchgänge
für ein und für alle Male verschüttete.
Wie von selbst wich die Furcht vor dem Ende einer seltsamen Gleichgültigkeit
dem eigenen Tod gegenüber. Ein Ende an einem Ort zu finden,
der schrecklicher als die von ätzenden Schwaden durchwobenen
Schwefelklüfte war, war nicht annähernd so grässlich
und so sinnlos, wie bis auf den jüngsten Tag dem Befehl Calderones
und Konsorten ausgesetzt zu sein, die ihre willfährigen Vasallen
an Plätze schickten, die sie wohlweislich mieden. Ein infernalischer
Knall, der Sog einer apokalyptischen Explosion mochte ihr für
immer den Atem von den Lippen zerren und die zersetzende Sehnsucht
in ihrem schwarzen Herzen zum Gefrieren bringen. Diese Aussicht,
endlich dem Mahlwerk der Macht zu entkommen zu können, war mehr
wert als persönlicher Ruhm und Machtgewinn.
Von einem Schlag auf den anderen ließ der Druck der Schwerkraft
sie los; die Kraft der Abwärtsbewegung trieb sie zwar weiter
nach unten, aber sie schien jeden Drall verloren zu haben. Sie glaubte,
langsamer zu werden, während sich ihr Magen sachte hob und Übelkeit
sich ihrer bemächtigte. Hatte sie den Mittelpunkt des eisernen
Erdkerns erreicht, um auf der anderen Seite durch das magmatische
Erdinnere wieder nach oben gespült zu werden? Obwohl sie ein
Wesen der Dunkelheit war, gab es in der Finsternis nichts, um sich
daran zu orientieren. Hilflos trieb sie entlang einer gedachten Gerade
einem namenlosen ausdehnungslosen Nichts zu.
Zehn Minuten später erschien Nicole mit zwei silbergrauen,
zum Bersten gefüllten Samsonite-Koffern, die zum Auto zu schleppen
Zamorras Aufgabe war. Dafür, dass sie nur fünf Minuten,
die er heimlich eingerechnet hatte, überzogen hatte, war ihr
wieder das Kunststück gelungen, das zulässige Gewicht der
Gepäckstücke pro Person um das Doppelte zu überschreiten.
Er sparte sich den Atem für einen Seufzer. Er hatte während
seiner langjährigen Karriere noch keinen Flug erlebt, bei dem
ein Teil ihres Gepäcks am Heimatflughafen zurückbleiben
musste.
Mit einem sorgsam verborgenen mitleidigen Lächeln schlug der
Taxifahrer den Kofferraum der schweren Limousine zu. Was sollte er
jemanden, der tatsächlich verrückt genug war, eine Taxifahrt
von einem gottverdammten Nest an der Loire bis zum Pariser Flughafen
zu ordern, von seinem Vorhaben abhalten? Zuvorkommend war er der
Dame behilflich, im kühlen ledernen Fond des Wagens Platz zu
nehmen. Ihr Begleiter schaute zum wiederholten Male auf seine Armbanduhr.
„Monsieur Cannard, holen Sie aus der Kiste heraus, was in ihr steckt“,
rief der Parapsychologe dem Fahrer zu, während dieser das Triebwerk des
VW Phaetons anließ. Fast geräuschlos erwachte der Motor zum Leben.
Die rot leuchtenden Ziffern des Taxameters zeigten an, dass die Fahrt vor annähernd
einer Viertelstunde begonnen hatte.
„Ich liebe deine weit blickenden Planungen, cheri“, säuselte
die Begleiterin an der Seite des kultiviert sportlichen Herrn und strich mit
dem Handrücken über sein glattrasiertes Kinn. „Jetzt haben
wir Zeit für uns, ganz ohne die Sorge, die Koffer von einem Gleis zum
nächsten bugsieren oder die Anschlüsse erreichen zu müssen.
Außerdem ist, wie ich sehe, für genügend flüssige Wegzehrung
gesorgt.“
Aus dem Augenwinkel beobachtete der Parapsychologe, wie der Taxifahrer
mit einer kleinen Berührung des Displays dem Navigationssystem
sein neues Ziel mitteilte. Ein roter Kreis mit einem Pfeil, der die
Bewegungsrichtung markierte, bewegte sich langsam über das schematische
Abbild der gewundenen Straße, die vom Chateau zum Tal führte.
Er hatte eine Auflösung gewählt, die groß genug war,
ihn rechtzeitig vor Haarnadelkurven zu warnen, die sich hinter üppig
bewachsenen Straßenböschungen verbargen.
„Schließlich möchte ich jede Minute, die ich mir dir ohne
den Druck des Alltagsstresses zusammen sein kann, genießen.“ Er
beugte sich leicht zu ihr hin, um in ihr volles Haar zu greifen und sie so
sanft dazu zu bewegen, ihm ihre Lippen anzubieten. Ihr Kuss schmeckte nach
Sonne und Leben.