Geschichten der Nacht # 65

"DIE DUNKLE SEITE DES MONDES"

 

Ein Science-Fiction-Roman

von

Christiane Lieke
("Wintermute")

Titelbild:
Christiane Lieke

Dezember 2010

Der Roman spielt anno 2009.


CHRISTIANE LIEKE (Clubpseudonym: Wintermute)
geb. 10. September 1968
Interessen: Science-Fiction, Phantastik & Mystery
Wintermute zeichnet sehr gerne mit Bleistift und Tuscheutensilien, beim Malen benutzt sie hauptsächlich Wasserfarben und eine Gouache-Technik.
Christiane hat über ein Drittel aller Geschichten-der-Nacht-Romane verfasst, mal Science-Fiction wie hier, mal Fantasy, mal Phantastik/Horror.


Leseprobe:

Im Dämmerlicht auf einem der Erde abgewandten Teil des Mondes erstreckte sich hinter einem bizarren Höhenzug in einer Komposition aus Kratern etwas, was keinem natürlichen Felsen ähnelte. Schweigend ließ Meyer die Scheibe wieder aufsteigen, sodass sich das Innere eines fast zwei Kilometer messenden Kraters öffnete. Arm in Arm waren Marla und Jesko so nahe an die Kuppelscheibe herangetreten, dass sie die Mondoberfläche gut überblicken konnten. Mit einem Mal war jedes Gespräch versiegt, als wäre alles gesagt worden. Von einem Lidschlag auf den anderen zuckte ein Lichtschein aus der Finsternis. Ein feines Lichternetz begann Konturen aus dem Inneren des Kraters zu meißeln, die so fremdartig und dennoch so vertraut wirkten, dass Marla einen leisen Schrei ausstieß.
„Jesko, sieh nur die neun Segmente!“
„Gütiger Himmel!“
Er deutete im schwachen Scheinwerferlicht auf die Linien inmitten von Felsenhorsten, die rings herum herausragten. Es war die Ansicht, die vor über 40 Jahren ein neunjähriges Mädchen treffend festgehalten hatte. Während sich die Flugscheibe im weiten Bogen näherte, öffneten sich neun Segmente, denen ein neuneckiger Kranz aus Strukturen vorgelagert war. Im Netz der Positionslichter ähnelte das Gebilde den holographischen Grundrissplan eines bizarren Siegels, das sich nach und nach in eine dreidimensionale Struktur verwandelte.
„Das ist die älteste Basis, das sogenannte Hauptquartier. Um Spionage abzuwehren, wird die Anlage normalerweise verdunkelt.“
„Was können sie ausgerechnet einem neunjährigen Kind in einer geheimen Einrichtung gezeigt haben“, wisperte Marla.
Jesko zuckte ratlos die Schultern. „Es ist mir unvorstellbar, wenn keine geheime Experimente im Spiel sind.“
„Es gibt es keine Möglichkeit, uns einfach nur zurückzubringen?“, rief sie unerwartet heftig aus.
„Was wir hier gesehen und gehört haben, können wir doch ohnehin nicht beweisen!“
„Nein, Franzen.“ Er hob die Augen nicht von der Bildschirmfläche, „das können wir nicht gestatten.“
Er verringerte die Höhe noch weiter, so dass sich die neun Bastionen mit ihren Vorplätzen zu riesigen Hallen mit vorgelagerten Höfen aufblähten.
„In diesem lunaren Posten sind 900 Flugscheiben, 22 Trägereinheiten und 3.500 Personen Besatzung stationiert – fast die Hälfte aller Einheiten, die zurzeit auf Mond und Erde tätig sind. Dieses Bollwerk ist Teil der einzigen Phalanx, die die Erde vor Aggressionen von außerhalb des Planeten schützt. Dass es diesen Ort gibt, sollte Ihnen Vertrauen einflößen.“
„Wenn es diese militärische Überlegenheit gibt, warum greifen Sie nicht in diese sinnlosen kriegerischen Konflikte ein, die bisher ungezählten Millionen Menschen das Leben gekostet haben? Warum lassen Sie das Afghanistan-Desaster und den Irakkonflikt zu? Warum verhindern Sie nicht, dass Angehörige ganzer Ethnien oder glaubensanschaulicher Gruppen gröbsten Menschenrechtsverletzungen zum Opfer fallen?“
„Wir können beobachten. In dem Moment, wo wir effektiv eingreifen, rufen wir zahlreiche nichtirdische Kräfte auf den Plan, was zu unvorhergesehenen Eskalationen führen könnte – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Die Zeiten, als das Erscheinen eines Diskusflugkörpers genügte, um Armeen zu zersprengen, sind vorbei. Heute erfolgen Operationen im Geheimen wie es die Reticuli-, die Adebaran- oder die Rigel-Allianzen bereits seit Jahrhunderten betreiben. Die Strategie heißt scheinbare Neutralität.“
Erstaunt vernahm Marla den schwankenden Unterton in seiner Stimme, der diese selbst auferlegte Neutralität auf erschütternde Weise vermissen ließ. Wie wünschte sie sich, in diesem Augenblick die Gedanken hinter seiner Stirn lesen zu können.
Während sie senkrecht auf einem Leitstrahl tiefer sanken, hatten die beiden Passagiere Gelegenheit, schwache Reflexe hinter den sechseckig miteinander verwobenen Fensterelementen zu beobachten. Dabei zerfloss beinahe ihre hochglänzende Oberfläche zwischen den Spiegelbildern umgebener Felsen, als schwebten sie durch einen Ort, an dem die Idee einer Stadt zu Stofflichkeit zu gerinnen begann. Gestalten hinter den riesigen Scheiben schienen der Landung des orangerot umflimmerten Gebildes, das sich darin reflektierte, nicht die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Unter ihnen öffnete sich ein kreisrundes Schott wie die Irisblende eines altmodischen Kameraobjektivs, um das winzige Fluggerät aufzunehmen.
„Die Kommandantur“, stellte Meyer im geschäftigen Tonfall fest, „hat gerade entschieden, dass Sie bis auf weiteres hier bleiben.“
„Aber meine Handtasche!“, entfuhr es Marla.
Als sie sich der Absurdität ihres Einwurfs voll bewusst wurde, brach sie in ein lautes, irgendwie unpassendes Gelächter aus. Jesko mahnender Blick ließ sie jedoch schnell verstummen.
„Wozu soll ich sie auch brauchen? Hier kann ich ohnehin nichts mehr mit meiner Scheckkarte anfangen.“ Zweifelnd hob sie den Blick zum schwindenden schwarzen Vieleck über der hellerleuchteten Deckenkonstruktion über ihren Köpfen. „Jetzt ist alles, was mich noch mit meiner Heimat – oder sollte ich besser sagen Herkunft – verbindet, eine billige Goldkette aus dem Ebay. Noch nicht einmal einen Blick kann ich auf die Erde werfen.“
Ohne etwas zu entgegnen, streichelte Jesko sachte durch ihr rotblondes, glattes Haar. „Ich bin noch immer bei dir“, flüsterte er in ihr Ohr „Vergiss nicht, ich bin ein echtes irdisches Gewächs.“
Ein betrübtes Lächeln kräuselte ihre Lippen. Sie machte keine Anstalten, ihre Arme um seinen Hals zu legen.
„Sie haben keine Ursache, den Mut zu verlieren“, erklärte Meyer. „Ganz im Gegenteil: versuchen Sie einfach, mir ein wenig zu vertrauen.“

Vertrauen, wie zweifelhaft dieses Versprechen aus dem Mund eines fremden Wesens klang, so genau traf es die Erwartungen. Ein Mondhabitat inmitten einer lebensfeindlichen, atmosphärenlosen Umgebung gründete auf nichts anderem als dem Prinzip Vertrauen. Ob Schwerkraftfeld oder Sauerstoffatmosphäre: Voraussetzung für ein langfristiges Funktionieren, wie es diese Anlage unter Beweis stellte, war ein in sich geschlossenes, in allen Einzelheiten verlässliches Versorgungssystem. Die geringste Schwäche hätte ihre Bewohner bereits vor Jahrtausenden dazu gezwungen, die Station aufzugeben.
Nicht ohne Mitgefühl sorgte Meyer dafür, dass sie eine Unterbringung erhielten, die der irdischen Definition von Wohnung beinahe nahe kam. Eine ausgedehnte Fensterfläche ermöglichte den Blick in die wenn auch vierzehn Tage währende Mondnacht und vermittelte das tröstliche Gefühl, nicht unter Stahl- und Betonmassen begraben zu sein. Die Gebäudesektion war so weitläufig, dass der Wunsch wich, sie verlassen zu wollen. Ein so erstaunliches und komfortables Habitat wie diese Basis, die ihre Erbauer „Baalbek“ nannten, ähnelte eher einer Stadt als einer Militäranlage. Trotzdem hatte es nichts von ihrer Lebendigkeit und Vielschichtigkeit.
Obgleich die ältesten Städte Europas Jahrtausende in die Vergangenheit reichten, waren sie junge Gebilde im Gegensatz zu dieser; trotzdem haftete diesem Ort nichts an, was man als historisch gewachsen bezeichnen konnte. Zeitlosigkeit schien die unbenennbare Atmosphäre am treffendsten zu beschreiben. Zeit- und Wesenlosigkeit waren es, die Jesko am meisten zu schaffen machten.

 


Bestellen kannst du GdN 66 online demnächst hier.


Impressum:

GdN 66 ist ein nichtkommerzielles Fanzine des TCE (Terranischer Club EdeN).
GdN 66 erscheint im Dezember 2010.
Umfang: 130 Seiten - Einzelpreis: 5,00 € plus 1,20 € Versand
Text & Titelbild: Christiane Lieke
Ein Geschichten der Nacht Abo über 4 Ausgaben ist zum Preis von 16 € erhältlich.

Bestellen


zurück zu den GdN Inhalten

Letztes Update dieser Seite am 05.08.2014