Geschichten der Nacht # 71

Mars attracts

Ein Science-Fiction-Roman

von Christiane Lieke ("Wintermute")
Titelbild: Christiane Lieke
April 2022

 

Cover GdN 71  Mars attarcts -(c) Christiane Lieke

Immer wieder verschwinden auf unerklärliche Weise Sonden,
die zum Mars geschickt werden.
Und nun auch Menschen.
Kann die zweite Mars-Expedition für Aufklärung sorgen?


Leseprobe:

Charlene erhebt sich. Aber sie ahnt irgendwo weit hinten in einem Winkel ihres Verstan-des, dass sie noch immer in ihrem Bett liegt. Denn sie trägt ihren lachsrosafarbenen Py-jama.
„Ich träume“, stellt sie ganz sachlich fest. „Es ist ein Klartraum.“
Verwirrt und erstaunt blickt sie sich in einer staubigen, trockenen Landschaft um, die ei-ner Wüste gleicht. Ein fahler Himmel spannt sich darüber mit milchig trüben, dünnen Wolken. Ein leichter Windhauch lässt den Stoff ihrer Schlafanzughose flattern. Wie frös-telnd, obwohl sie gar keine Kälte spürt, beginnt sie ihre Oberarme zu massieren. Merk-würdig, wie unmittelbar und unbehaglich sich diese Landschaft anfühlt. Der metallene Geschmack auf der Zunge kommt ihr beinahe vertraut vor. Auf Filzlatschen beginnt sie durch die flache Umgebung zu streifen. Aufmerksam ist sie darauf bedacht, nicht mit den Zehen an die scharfkantig wirkenden kleinen Felssteine zu stoßen. Sie beugt sich herunter, um Sand, feines Geröll und Steine zu berühren.
„Es fühlt sich alles so realistisch an“, durchfährt es ihren Verstand. Nur das Atmen fällt ihr noch immer leicht, was an einem Ort wie diesem nicht zu erwarten gewesen wäre.
„Es könnte eine Astralprojektion von außerordentlicher Klarheit sein“, denkt sie bei sich. „In letzter Zeit hatte ich einige bizarre Erlebnisse, die mich geradewegs für die Irrenan-stalt prädestiniert hätten, wenn ich nicht...“
Charlene hatte ein Buch von Robert Monroe gelesen, „Der Mann mit den zwei Leben“. So ähnlich lautete der Titel. Monroe berichtete von zahlreichen Astralreisen, die er nutz-te, um die astrale Welt zu erforschen. Er unterschied diese Erlebnisse von normalen Träumen und nannte sie Out of Body Experience, ASW.
Sie hebt einen kleinen sonderbar geformten Stein auf und lässt ihn in die Schlafan-zugjackentasche gleiten „Klar, wenn sich erwache, wird er weg sein, was sonst.“
Behutsam geht sie weiter und lässt die Augen hin und wieder zu dem sanften Hügel am Horizont gleiten. Wenn sie sich umdreht, schließen sie sich wie der Wulst um einen Kra-ter.
„Natürlich“, sagt Charlene laut. „Ich stecke ja in einem Krater... der Mars, es ist der Mars!“ Fieberhafte Aufregung ergreift sie. „Diesen Moment muss ich so lange wie mög-lich festhalten, ich muss...“
Während sie anfangs ziellos dahinschlendert, denkt sie darüber nach, dass in astraler Umgebung die Möglichkeit besteht, durch Willenskraft ihren Standort oder die Situation an sich zu verändern. Allerdings ist sie sich nicht sicher, ob es auch hier funktioniert – und wenn, würde es ihr vielleicht gar nicht auffallen. Auf einmal – ein Hinweis? - stößt sie auf geriffeltes Spuren wie von einem Lander. Opportunity? Sie geht weiter, bis sie ein mit feinem Staub bedecktes, aber äußerst detailliert wirkendes technisches Gebilde entdeckt.
„Wow! Das Ding sieht aber realistisch aus! Perseverance? So groß wie es ist, muss es Per-severance sein. Außerdem hat es keine Solarpaneels!“
Mit vor Aufregung heftig klopfendem Herzen kommt sie näher, aber die Mastkamera macht keine Anstalten, sich in ihre Richtung umzudrehen. Ihre erfreute Vorstellung, von erstaunten Wissenschaftlern in einem JPL-Labor beobachtet zu werden, hält nicht lange an. Das Ding macht nicht die geringsten Anstalten auf ihre Anwesenheit in irgendeiner Form zu reagieren. Sie nähert sich so weit an, um mit dem Knöchel an die große Mast-cam zu klopfen.
„Metall“, stellt sie laut fest. „Eine so realistische Astralreise hatte ich noch nie!“
Einen Moment lang folgt sie den langsamen Bewegungen des Rovers, der seine Analysen kompromisslos unbeteiligt fortzusetzen scheint. Mit dem Finger tupft sie auf eine verkleidete Oberfläche auf der Rückseite.
„Ich war hier“, malt sie mit dem Zeigefinger sie in die feine Staubschicht, „gez. Charle-ne.“ Sie kichert albern, sich aber gleichzeitig der Vorstellung bewusst werdend, dass sie sich gerade etwa 200 Millionen Kilometer entfernt auf einer fremden Welt befindet: dem Mars.
In diesem Moment lässt sie ein weiteres Geräusch zusammenzucken. Es ist nicht das Ge-räusch des ultraschnell sirrenden Elektromotors dieser kleinen Propeller betriebenen Maschine im Landeanflug auf den Rover. In diesem Augenblick sieht sie eine weitere Ge-stalt ziellos durch die Landschaft irren. Es ist ein großgewachsener, schwerfälliger Mann in blauem T-Shirt mit einem weißen Aufdruck und dreiviertellangen graugrünen Hosen. Orientierungslos stolpert er mal in die eine, mal die andere Richtung. Hat er sie nicht ge-sehen? Wie auch? Wahrscheinlich handelt es sich ja nur um eine Fata Morgana.
„He, Sie da drüben! Können Sie mich sehen?“, ruft sie laut aus.
Plötzlich zuckt der zerzauste Kopf des Mannes herum. „Da...“ Er hebt wie ein Betrunke-ner einen Finger. „Da ist ein Mensch... Das...“
Schleunigst lässt sie von der technischen Apparatur ab. Das plötzliche Auftauchen eines anderen erstickt die kleinste Vermutung in ihr, dass das Fehlen von Solarkollektoren nur eine andere Art von Antrieb nahelegt, denn tatsächlich wird Perseverance von einer Ra-dionukleidbatterie mit Energie versorgt. Das kleinste verknickte Kabel könnte den wei-teren Erfolg der Operation in Rauch aufgehen lassen. Schnurstracks läuft sie der schlur-fenden Gestalt entgegen.
„Ein Mensch“, bringt der Mann rau hervor und hustet dabei gequält auf. „Hier ein menschliches Wesen?“
„Hey!“, erklärt Charlene beherzt. „Das ist nur ein Klartraum oder eine Astralprojektion. So genau kenne ich den Unterschied nicht. Denken Sie daran, wohin Sie wollen, dann kehren Sie tatsächlich dahin zurück.“ Auf einmal klingt ihre Stimme nicht mehr so ent-schlossen.
Robert Monroe hatte von einer Episode geschrieben, aus der er einmal beinahe nicht mehr zurückkehren konnte. Er hatte das Gefühl, es hätte Stunden gedauert, bis er schließlich den Ausweg erkannte. Aber in diesem Fall? Taumelnd tritt der Mann im T-Shirt mit dem Aufdruck einer Wohnungsvermietungsgesellschaft auf sie zu.
„Es ist kein Wachtraum“, bringt er mühsam hervor. „Das ist echt!“ Seine Lippen sehen so spröde und rissig aus, dass sie es mit dem Mitleid zu tun bekommt.
„Wie sind Sie hierhergekommen?“
„In einer Wohnung... ich war in einer Wohnung, die zwangsgeräumt werden sollte. Es ist mein Job...“ Verwirrt unterbricht er sich selber und weicht mit flatternden Blicken ihrer Aufmerksamkeit aus.
Er wirkt wie ein reales Wesen, nicht wie ein Traumgebilde – zumindest könnte er ein Be-sucher sein. Ganz behutsam tritt sie an ihn heran und zupft an seinem T-Shirt-Ärmel. Un-vermittelt fängt er an zu weinen. Unbehaglich zieht sie ihre Hand zurück.
„Ich bin Charlene“, sagt sie und kommt sich albern vor, in ihrem eigenen Traum – oder ist es doch eine Astralreise, auf der man dem Bewusstsein anderer begegnen kann - so zu sprechen.
„Lars“, murmelt der andere mit trockener Stimme, „mein Name ist Lars Matthes.“
Stumm, der eine mit Tränen verhangenen Augen, die andere in der Empfindung gestei-gerter Konzentration, starren beide zur Silhouette des Rovers herüber. Er hat indessen einige Meter leise surrend im Staub zurückgelegt.
„Wenn Sie sich wünschen zurückzukehren - in Ihr eigenes Bett, meine ich“, erklärt Char-lene nach einer unbehaglichen Pause, denn es macht sie immer noch verlegen, einen Mann weinen zu sehen. „Schwupp, dann werden Sie aufwachen! Das funktioniert nor-malerweise bei luziden Träumen. Früher habe ich mir als Kind die Augen im Traum gerie-ben, vor allem dann, wenn ich einen Albtraum hatte, den ich nicht sehen wollte. Das hat damals immer gut geklappt.“


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Impressum:

GdN 71 ist ein nichtkommerzielles Fanzine des TCE (Terranischer Club EdeN).
GdN 71 erscheint im April 2022.
Umfang: 64 Seiten - Einzelpreis: 4,50 € (für Clubmitglieder 4 €) plus 2,00 € Versand im Inland
Text &Titelbild: Christiane Lieke
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Letztes Update dieser Seite am 28.10.2022