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Cover GdN #35 "Die Inhaberurkunde" - copyright by Christiane Lieke

 

 

Geschichten der Nacht # 35

Die Inhaberurkunde

Ein SF-Roman von
© Christiane "Wintermute" Lieke

Aus dem Inhalt:

Loretta arbeitet bei PGP, einer weltweit erfolgreichen HighTech-Technology-Firma. Eigentlich läuft alles ganz normal, bis Loretta aus dem TV erfahren muss, dass Dr. Piechler-Groening, die die Firma so weit gebracht hatte und vor einem Jahr, warum wusste niemand, aus dem Vorstand zurücktrat, kein Mensch sondern eine Künstliche Intelligenz ist!
Nicht nur Loretta hat nun ein Problem sondern auch Thomas Groening, denn er liebt Dolores...


Leseprobe:

2. Die Betriebsversammlung

Hinter dem gewaltigen M-förmigen Gebäude, das in seiner Architektur möglicherweise nicht zufällig gewisse Ähnlichkeiten mit der transparenten Glaskonstruktion des Kölner Maritim-Hotels hatte, hatte die Morgensonne zu dämmern begonnen. Wieder glich es, direkt am Rheinufer gelegen, einer mit einem Netzwerk aus Licht durchzogenen Raumstation auf einer fremden Welt. Dennoch wurde dieses Idyll von einer unübersehbaren Anzahl von Menschen gestört, die sich vor dem dazugehörigen Gelände versammelt hatten und Einfahrende daran zu hindern suchten, ihre Dienstfahrzeuge in der firmeneigenen Tiefgarage zu parken. Das Pförtnerhaus glich einer belagerten Bastion.

Da es sich als günstig erwiesen hatte, hatte sie statt des Autos die U-Bahn genommen, um genau dem Problem des verhaßten Parkhauses zu entgehen. Schon aus einigen hundert Metern Entfernung hörte Loretta den skandierenden Gesang aus hunderten empörten Kehlen (wahrscheinlich Wählern der Ökologischen Partei Deutschlands und anverwandten Organisationen). Dies genügte ihrer Vorstellungskraft vollends sich auszumalen, was sie im zweiten Kellergeschoß, das den größten Vortragssaal enthielt, zu erwarten hatte. Auf am über zwei Meter hohen Stahlzaun gespannten Transparenten stand zu lesen:
"Wir fordern eine endgültige Entscheidung: schließt die PGP!"
"Frankenstein ist eine Legende - Frankenstein bleibt eine Legende."
"Schaltet alle PGP-Rechner ab!"

Zu allem Überfluß waren schon zwei Übertragungsteams der größten Fernsehanstalten angerollt, die ihre Parabolantennen in Richtung Kopernikus oder TV-Sat auszurichten versuchten. Allzu gerne hätte sich Loretta einen Weg herbeigewünscht, durch eine Zeitraumverschiebung oder per Transportstrahl in das Gelände der PGP zu gelangen. Selbst mit einer Tarnkappe hätte sie sich zufriedengegeben.

Im Inneren des im Normalfall auf achthundert Personen ausgelegten Saales herrschten (nicht nur bedingt durch die Klimaanlage, die bis an ihre Lastgrenze beansprucht wurde) einem brodelnden Kessel nicht unähnliche Verhältnisse. Die Objektbetreuungsgesellschaft, ein Hausmeisterbetrieb gewissermaßen, hatte im Laufe der vergangenen Nacht Sitzgelegenheiten für dreihundert weitere Personen geschaffen. Trotzdem waren die Kapazitäten des Saales bald erschöpft, eine bei einer Betriebsversammlung anzutreffende Seltenheit.

Als Groening beinahe eine Dreiviertelstunde verspätet das Rednerpodium betrat, schien wenig darauf hinzudeuten, dass er bereits einen nicht minder langen Spießrutenlauf hinter sich gebracht hatte. Ein silbergrauer Anzug, bestehend aus einer taillenkurzen enganliegenden Jacke und gerade geschnittenen Hosen, ließ den tadellosen Sitz einer hochwertigen Schneiderarbeit erkennen. Das graumelierte Haar berührte als Pagenkopf den steifen Stehkragen. Er benötigte weitere Minuten Zeit, um das allgemeine, erregte Gemurmel zu annähernder Zimmerlautstärke zu reduzieren.
"Meine Damen und Herren, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der PGP, ich danke Ihnen, dass Sie so zahlreich meinem Aufruf erfolgt und hier erschienen sind."
"Wer läßt sich einen kostenlosen Flug und Spesen für einen ganzen Tag entgehen!" perlte eine erboste Stimme über das allgemeine Raunen hinweg.
"Ich freue mich besonders über die Resonanz der Zweigniederlassungen, die aus organisatorischen Gründen eine beschwerlichere Anreise auf sich nehmen mussten."

Loretta lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ die Augen zur gewölbten Wabendecke wandern, ehe sie zu der riesigen Projektionsfläche zurückkehrten, auf der sich Groenings Konterfait verdoppelte. Die HDTV-Auflösung war fein genug, das Netz feiner Schweißperlen auf seiner Stirn zu enthüllen. An seiner Stelle hätte ich mich nach Brasilien abgesetzt und alles andere meinen Rechtsanwälten überlassen.
"Obwohl ich annehmen muss, dass jedem von Ihnen der Grund dieser außerordentlichen Veranstaltung bekannt ist, möchte ich ihn noch einmal zusammenfassen. Ihre Entscheidung, meine Damen und Herren, ist gefragt. Ihre Absichtserklärung, mir Ihre Loyalität weiter zu gewähren oder mir das Vertrauen aufzukündigen. Ich wünsche mir nichts anderes, als klare Verhältnisse. Ich hoffe, Sie geben mir eine Chance, sie aufzuklären."

Das Raunen wuchs einen Augenblick zu einer Orkanbö an, ehe es sich wieder legte.
"Einige von Ihnen werden die Sendung gesehen haben, die gestern nachmittag im Regionalprogramm ausgestrahlt wurde, für alle übrigen, die sie nicht sehen konnten, möchte ich ihre Inhalte zusammenfassen. Meine Frau, Dr. Dolores Piechler-Groening hat sich bereit erklärt, mich bei dieser Aufgabe zu unterstützen." So leise, dass nur die Umstehenden davon mitbekamen: "Dolores, steht die Bild-Ton-Übertragung?"
Ebenso gedämpft die Antwort aus dem Off: "Ich habe alle Datenübertragungskanäle getestet. Thomas, ich liebe dich."

Das Videoprojektionssystem duplizierte geträulich einen winzigen Augenblick lang den gequälten Gesichtsausdruck des Topmanagers, ehe dieser so scheinbar mühelos in die langtrainierte Rolle zurückkehrte, als hätte er sich nur geräuspert. "Das, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, fällt mir nicht leicht zu sagen. Doch der Zeitpunkt läßt sich nicht länger herauszögern, Sie über den Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte aufzuklären, die seit nicht weniger als einem Jahr in der PGP und ihrer Umgebung kursieren. Als Mitarbeiter dieses Unternehmens und damit auch Träger der Funktion dieses Unternehmens, besitzen Sie ein Recht, über die Verhältnisse innerhalb der PGP aufgeklärt zu werden. Diese Pflicht haben wir leichtfertig und sträflich versäumt. Ich bitte nicht um Ihr Verständnis, lediglich um Ihre Kenntnisnahme. Die PGP", plötzlich hielt der Mann in seinem Gesprächsfluß inne, als sei er sich unvermittelt darüber bewußt geworden, dass es keinen Weg gab, im schützenden Terrain allgemeiner Floskeln zu bleiben. "Dieses Unternehmen - eh - meine Frau und ich..." Stotternd bemühte er sich, den Faden wieder aufzunehmen.
"Sie haben wohl Ihren Text vergessen!"
"Wollen Sie einen Rückzieher machen? Das hätten Sie sich eher überlegen sollen, Groening!"

Loretta spürte förmlich die Qual dieser peinlichen, doch nur allzu verständlichen Pause. Sie erinnerte sich an eine der letzten, unerfreulichen Betriebsversammlungen der PGP, wo es Groening trotz des Scheiterns eines 1,2 Milliarden-Geschäftes und entsprechendem negativen Jahresergebnis gelungen war, so etwas wie Optimismus zu verbreiten. Eloquenz gehörte zu jenen Tugenden, die er im wörtlichen Sinne des Wortes beherrschte und so bravourös zum Erklingen brachte wie ein Violonist eine Geige. Seine Frau dagegen - nun war eine sehr eigenartige Begründung dafür nahegelegt - hatte ihre Zuhörer durch brillante Logik gefesselt und was wahrscheinlich nur sehr wenige eingestanden überfordert. Erfüllt mit äußerst gemischten Gefühlen sah sie den hervorragenden Redner um Fassung bemüht nach Worten ringen wie ein Laie auf einem Rhetorikerkongreß.
"Meine Damen und Herren", brachte er mühsam hervor, "ich bitte um Verzeihung." Während er sich darauf umständlich und irgendwie Mitleid erregend schneuzte, erwachte die für einen Augenblick verdunkelte Projektionswand zu neuem Leben.

Die Konturen eines Gesichts von beinahe ebenmäßiger Schönheit erfüllten mit einem Mal die grau glimmende Fläche. Ein Raunen pflanzte sich von Kehle zu Kehle fort, als die Anwesenden erkannten, dass es sich um Dolores Piechler-Groening handelte und gleichzeitig bemerkten, dass sie schöner (geradezu ideal) wirkte, als je bei einem der Vorträge gesehen. Loretta erkannte schockhaft, dass diesen Zügen ohne Zweifel etwas sehr Artifizielles innewohnte, als blickte man auf die computermäßige Visualisierung eines menschliches Gesichtes. Sie ahnte, dass der Wahrheitsgehalt dieser Vermutung überwältigend groß war.

"Sehr verehrte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der PGP, bitte verzeihen Sie diese kleine Panne, habe ich doch das Zustandekommen der Koordination zerstört. Ich glaube, dass es nicht die Sache Herrn Groenings sondern meine ist, den Grund dieser Zusammenkunft darzulegen. Wie vielen von Ihnen möglicherweise schon bekannt ist, bin ich nicht die, die zu sein ich 25 Jahre vorgegeben habe, sondern eine artifizielle Person, eine KI nach Diktion der PGP, die zeitweise als Android, also als Apparat mit humanoider Erscheinungsform, aufgetreten ist. Ich benutze vor Ihnen dieses vertraute Gesicht, da ich in dieser Gestalt zwanzig Jahre lang am Schicksal der PGP getragen habe."

"Und was kommt jetzt? Die große Enthüllungsstory?"
"Hey, sollte ich mich dafür entschuldigen, dass ich gestern die Sondersendung nicht gesehen habe?"
"Ach nein, und morgen lesen wir in der Zeitung, dass sich unser Bundestagspräsident als weißes Kaninchen mit Zylinder entpuppt hat?"
"Was motiviert Sie denn auf einen Schlag dazu, nach zwanzig langen Jahren plötzlich und unerwartet die Maske fallen zu fallen?"
"Das ist doch eine bodenlose Frechheit!"
"Was wäre, wenn ihr euch mal darauf verlegen würdet zuzuhören, ihr tumben Geister!" Die Stirn ärgerlich gekraust, verschränkte Loretta die Arme vor der Brust.
"Und Sie, Herr Groening", schrie eine sich überschlagende Stimme über das allgemeine Gemurmel und Gerede hinweg, "wollen uns jetzt wahrscheinlich beweisen, von all dem nichts gewußt zu haben!"

Wütend ballte Loretta auf dem Klappsessel die Hände zu Fäusten. Manchen sind offensichtlich so viele Reklame- und Quizsendungen ins Hirn geblasen worden, dass sie verlernt haben zuzuhören.
"Dies habe ich mit keinem Wort behauptet", antwortete der Manager in das winzige Loch entstandener Stille hinein. Auch er konnte nicht verhindern, dass der weitere Teil seiner Erklärung im allgemein Lärm unterging. "Ich hatte von Anfang an keinen Zweifel"
Die junge Frau spürte, wie sich ihre Haltung aufrichtete. Ihr Herz pochte so heftig in ihrer Brust, dass sie den Puls ihres Blutes spüren konnte.
"Ruhe bitte!" Die etwas verzerrte Stimme von Thomas Groening wurde vom Pfeifen einer Rückkopplung zerrissen. "Ich bitte Sie wenigstens für einige Minuten um Ruhe."
"Schalten Sie doch für einen Augenblick den Strom ab!" Loretta wurde sich unvermittelt gewahr, dass sie aufgesprungen und mit lauter Stimme in die Menge gerufen hatte. "Dann kommen sie zur Vernunft,."
"Setzen Sie sich da vorne endlich!" herrschte sie ein Hintermann im Rücken an. An ihm war der Sinn dieses Appells völlig vorbeigegangen.
"Bitte dämpfen Sie die Lautstärke." Die wohlklingende, dunkle Stimme wurde durch die Kraft einer zwanzigtausend Watt-Lautsprecheranlage getragen, dennoch drohte sie unterzugehen. Loretta entging nicht, dass unter ihrer Anspannung die Geduld beinahe erschöpft war. Leider schienen nur wenige andere Zuhörer diesem Aufruf zugänglich zu sein.

Nur Sekundenbruchteile später ereignete sich etwas, das am treffendsten mit einem Feuerwerk zu beschreiben war, das kurz davor stand zu verlöschen. Ohne jeden weiteren Kommentar schalteten sich Galerien von Scheinwerfern - nicht nur Scheinwerfer - sondern auch die Lautsprecheranlage selbst ab, ehe ihre ausglühenden Wendel absolute Dunkelheit zurückließen. Kaum lange genug, dass jemand Luft sammeln konnte, laut aufzuschreien oder seinen Nebenmann zur Seite zu drücken. Dann schaltete sich die Beleuchtung knackend in exakter Gleichzeitigkeit zur Projektionswand ein, auf der ein schönes, jedoch sehr ärgerliches Gesicht in die Menge blickte.
"Meine Geduld", fuhr die gleiche Stimme sehr weich fort, "ist keineswegs so großzügig bemessen wie die meines Mannes. Ich bitte mir nichts anderes aus, als sich an all die Disziplin zu erinnern, dank der dieser Konzern jene Stellung erreichen konnte, die er jetzt innehat. Ich danke Ihnen für diesen kleinen Hinweis, Frau Wienart!"


Impressum:
GdN 35 ist ein nichtkommerzielles Fanzine des TCE (Terranischer Club EdeN).
GdN 35 ist am 01. Dezember 2001 erschienen.
Umfang: 36 Seiten - Auflage: 40 Exemplare - Preis 2,10 € plus Versand
Cover und Illustrationen: © Christiane Lieke

Geschichten der Nacht erscheinen in der Regel vierteljährlich;
ein 4+1-Sonderabonnement ist für 16,00 € erhältlich.

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Letztes Update dieser Seite am 02.02.2007