CHRISTIANE LIEKE
DRACHENKRALLEN
Phantastische Drachengeschichten
Softcover
ISBN 978-3-940582-03-4
Preis: 9,95 €
Wunderwaldverlag
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Von Christiane Lieke, im TCE und darüber hinaus auch
unter ihrem Pseudonym "Wintermute" bekannt, ist im
Wunderwaldverlag ihre erste Veröffentlichung erschienen.
(aus dem Klappentext)
Die
drei Erzählungen dieses Bandes widmen sich den Drachen über
die Grenzen der Zeiten und Kulturen hinweg. Im gleichen Maße,
wie sie der phantastischen Literatur verhaftet sind, zeigen sie, dass
sich Science Fiction und Fantasy keineswegs ausschließen.
Wer
Zauberer und Hexen erwartet, findet an ihrer Stelle weise Männer,
weitsichtige und engherzige Fürsten oder wissensdurstige Menschenkinder.
Eines haben sie gemeinsam:
Das Zusammentreffen mit Drachen bewirkt
die entscheidende Wende in ihrem Leben ...
Kurzvorstellung der Autorin:
Wenn ich mich so recht entsinne, erwachte mein Interesse,
selber zu schreiben mit meiner damaligen Liebe zur Science Fiction
in den späten 70er Jahren, als SF-Serien wie „Captain
Future“ oder „Raumschiff
Enterprise“ zu den Raritäten im deutschen Fernsehen
gehörten.
Literarisch wurde ich erstmals mit Stanislaw Lems „Sternentagebüchern“ und
den Abenteuern des Ijon Tichy an die SF herangeführt. Und
ich muss eingestehen, dass Erich von Dänikens dritter Band „Aussaat
und Kosmos“, der mir als 12-Jährige in die Hände
fiel, einen Samen in mir gepflanzt hat, der noch heute einen wesentlichen
Einfluss auf mein Weltbild und meine Sichtweise der Kulturgeschichte
der Menschheit hat.
Auf diese Weise bin ich in den Spannungsbereich
von Science Fiction, Fantasy, Phantastik und den reichen Mythenschatz
der frühen Hochkulturen geraten.
Obwohl sich mit der Zeit mein persönlicher Schwerpunkt von der
reinen Science Fiction auf die Phantastik mit ihren Vorreitern
wie H.P. Lovecraft oder Mary Shelley oder die Fantasy verlagert hat,
wie sie Robert E. Howard als Abenteuerautor begreift, sehe ich
darin keine sich ausschließenden Gegensätze. Vielmehr
tun sich immer wieder neue spannende Türen mit ungeahnten Aspekten
und Querverbindungen auf. Nicht zuletzt habe ich, von Franz Kafkas
Erzählung „Die
Verwandlung“ nachhaltig beeindruckt, meine Vorliebe für
ungewöhnliche Erzählperspektiven ihm zu verdanken.
Anstatt, wie vermutlich die überwältigende Mehrzahl von
Autoren, mit Kurzgeschichten und Erzählungen zu beginnen,
habe ich mich auf ausufernde, viele hundert Seiten lange Ergüsse
geworfen und erst später die Vorzüge kürzerer Geschichten
kennen gelernt. Allerdings verfalle ich immer wieder gern in meine
alte Leidenschaft, Handlungsfäden und Entwicklungsräume
mit epischen Ausmaßen auszuspinnen. Allerdings gelingt es
mir selten, mich für längere Zeit auf eine einzige „Welt“ festzulegen.
Vielmehr reizt es mich, immer wieder neue Welten mit neuen Gegebenheiten
und abweichenden Voraussetzungen zu entwerfen.
Ebenso gerne, wie ich Kreaturen in meinen Texten zum Leben erwachen
lasse, zeichne ich sie auch. Deshalb habe ich meine Veröffentlichungen,
die bisher ausschließlich im Rahmen des Fandoms stattgefunden
haben, stets selber illustriert.
[Eine Auswahl ihrer Bilder findest
du in der TCE-Galerie.]
Die Herausforderung, eine Story – die
eigene oder die eines anderen Autors – in Bilder umzusetzen
und somit auf einen visuellen, zweidimensionalen Hintergrund zu
projizieren, fasziniert mich sehr. Manchmal allerdings lasse ich
mir in dieser Hinsicht auch die künstlerische Freiheit, die Ästhetik über
eine exakte Umsetzung einer Szenerie zu setzen.
Bei Versuchen,
eigene Kurzgeschichten in Comics umzusetzen, wurde für mich
deutlich, dass bei der Zeichnung noch mehr Präzision, als
bei der Beschreibung erforderlich ist. Denn hier muss die bildliche
Darstellung das leisten, was sonst die Phantasie des Lesers ausfüllt.
Tuschefeder, je feiner desto besser, Bleistiftsatz und Buntstifte
sind zurzeit meine bevorzugten Zeichenutensilien. Da für mich
das feinausgearbeitete Detail einen ebenso hohen Stellenwert hat
wie der Gesamtentwurf an sich, steht und fällt schließlich
das Ergebnis mit der Qualität des Zeichenkartons.
Grafikprogramme
wie Photoshop sind sicherlich hervorragend geeignet, eine gescannte
Zeichnung nachzubearbeiten, was Kontraste oder kleine Fehler betrifft.
Auch das Layout eines Titelbild lässt sich damit ideal bewältigen.
Jedoch kann ich mich nicht so recht mit den Vorzügen einer
rein digitalen Erstellung von Graphiken wie mit Freehand oder Bryce
anfreunden.
In dieser Hinsicht bin ich wohl ein unverbesserlicher
Traditionalist.
Da meine berufliche Tätigkeit im Büro
einen sehr großen
Raum in meinem Leben einnimmt, sind die geeigneten Mußestunden
bedauerlicherweise mitunter dünn gesät.
Mein in Kürze erscheinendes Buch „Drachenkrallen“ – ein
Band aus drei Kurzgeschichten, die dem Thema Drachen gewidmet ist,
spiegelt alle vier Seiten meines Interesses wieder.
Insofern kann
ich mein heimliches Faible für die Phantastik und die SF,
aber auch Romantik nicht verleugnen.
Leseprobe „Drachenkrallen. Phantastische
Drachengeschichten“
Ganz benommen vom lähmenden Gefühl
der Hilflosigkeit und der Trauer, zwangsläufig versagen zu
müssen, blieb
Lu-Yang lange am Boden hocken. Erst als seine Knie beinahe unerträglich
schmerzten, erhob er sich auf die Beine und wankte zum Garten hinaus.
Der Mittag wandte sich zum Abend, und dieser verging in der kraftlosen
Dämmerung hereinbrechender Dunkelheit. Aber Lu-Yang fügte
nicht ein einziges Bambustäfelchen an ein anderes oder brachte
ein einziges Zeichen auf die Seidenbahn. Obwohl ihn der Durst zu
quälen begann, fehlte ihm sogar die Kraft, aufzustehen, um
ihn mit etwas Tee oder Wasser zu stillen. Das Bild seines bevorstehenden
Todes schwebte so deutlich vor seinen Augen, dass es ihn selbst
nicht mehr interessierte, was die übrigen 124 Bambustäfelchen
zu sagen hatten. Dankbar gab er sich der Müdigkeit hin, die
endlich auf seine Lider fiel. Schlaf trug den Alten auf gewichtslosen
Armen in sein schattenhaftes Reich. Aber er raubte ihm keineswegs
das Bewusstsein. Vielmehr schien es, als würde er den, der
sich so vergeblich nach Ruhe sehnte, von einer Welt in die andere
verpflanzen, in der er hellwach war.
„Herrlicher Fürst,
Sonne über
das Land am Wei, ich überbringe Euch eine Botschaft.“
Der Fürst fühlte, wie er auf seinem steinernen Thron
zusammenzuckte; denn er war eingenickt. Der Bote lag mit dem Gesicht
zum Boden geneigt auf den glasierten Fliesen, die zu seinem Sitz
führten.
„Trägt sie das kaiserliche Siegel?“ Seltsam abwesend klang
die eigene Stimme in seinen Ohren. Er war sich noch nicht einmal bewusst, warum
er diese Frage stellte.
„Nein, erhabene Majestät. Ich habe dieses Siegel noch nie gesehen.
Aber es scheint einem sehr mächtigen, dem Himmel nahestehenden Herrscher
zu gehören.“
„Hör auf mit diesem Gerede. Lies vor!“
Was bei den Dämonen
der Hölle ist das für eine seltsame Theateraufführung, in der
ich mitspiele, dachte Lu-Yang bei sich. Natürlich ist dies ein
Traum, den mir diesmal ein Geist schickt, um mich zu verhöhnen.
„O hoher Herr, sie ist in den uralten Zeichen ...“
„Lies vor! Wenn du es nicht kannst, dann übergib die Rolle den Schriftgelehrten!“ Lu-Yang,
von echtem Zorn überrascht, war aufgesprungen.
„Hier steht - “, die Stimme des Boten zitterte vernehmlich, „’Großmächtiger
Herr des Fürstentums am Hwai, hiermit übersende ich Euch demütigst
meine Ehrerbietung und mein Ersuchen um ein Friedensgespräch. Es ist kein
Eigennutz, der mir die Vermessenheit eingibt, Euch zu bedrängen, lediglich
tiefe Sorge um den Fortbestand von Drachen und Menschen. Mein bescheidener
Palast sei Euer Obdach. Gewährt mir in Eurer grenzenlosen Großzügigkeit
diese eine Gunst. Die einzige Bedingung, die ich an Euch zu stellen wage, ist,
dass Ihr am Tag Tong-Kin ohne das Geklirre Eurer mächtigen Waffen erscheint.
Als Unterpfand für die Aufrichtigkeit meines Anliegens lasse ich Euch
tausend Pfund Gold und weißer Jade schicken. In Demut verharrend’ ...
Bei den Göttern, der Brief trägt die Unterschrift eines Drachen!
Es ist die Nachsichtige Herrscherin.“
„Ein Drache, der seinen Peinigern Geschenke bringt?“
„Hoher Herr, kann ich gehen?“
„Ja, ja natürlich.“ Lu-Yang führte eine geistesabwesende
Geste mit dem Jadeszepter aus. „Veranlasse, dass die Geschenke hereingetragen
werden.“
Damit verschwand die seidene Gestalt zwischen den lautlos zurückfahrenden
Flügeln der Tür und ließ Stille im Thronsaal zurück.
Vor einer Galerie aus lackierten und reich verzierten Zedernholzsäulen
standen Rosenbüsche in steinernen Töpfen und verströmten
einen betörenden Duft. Dieser Geruch war auf eine verstörende
Weise gegenwärtig, dass Lu-Yang für einen Augenblick
vergaß, warum er die Identität eines Fürsten von
Hwai erhalten hatte. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass er die
Einladung annehmen würde, obwohl ihm im Augenblick nicht klar
war, warum. Hinter Fäusten, die er gegen seine gerunzelte
Stirn gepresst hatte, versuchte er sich daran zu erinnern, wer
er war und warum er den Namen der Nachsichtigen Herrscherin kannte.
Unter seinen Händen fühlte sich sein Gesicht glatt und
bärtig an. War der Fürst ein junger Mann?
Die Perlenschnüre seines Kopfputzes klirrten leise aneinander,
als er sich ganz ohne Mühe von seinem Sitz erhob und die Treppenstufen
hinunter schritt. Das seidene Gewand, in das er gehüllt war,
bestand aus so vielen üppig drapierten und mit Nadeln und
Gürteln gehaltenen Bahnen Stoff, dass selbst ein kaiserliches
Kleid sich hätte kaum vornehmer ausnehmen können. Im
gleichen Moment öffnete sich die rotlackierte Tür mit
ihren verschlungenen, goldbeglänzten Spiralen ein zweites
Mal: Zwanzig Männer erschienen, je zwei in einer Reihe, und
trugen zwischen sich jeweils ein Tragegestell mit einer bronzenen
Truhe darauf. Vor dem schweigenden Fürsten stellten sie die
Tragegestelle ab und hoben, als hätte er vergessen, dass er
den Befehl dazu gegeben hatte, die Deckel ab. In ihrem Inneren
glitzerten Goldgeschmeide, Jadegeschirr und andere Kostbarkeiten,
dass es Lu-Yang fast den Atem verschlug. Aber er war ja ein Prunk
gewohnter Fürst. Schweigend trat er an die Kisten; gedankenverloren
nahmen seine Hände eine goldene Schale heraus, in die verworrene,
aber ungemein kunstfertige Ornamente ziseliert waren.
„Seltsam“, sagte er laut. „Ob dieser Schatz der Grund war,
warum der Fürst auf diese Einladung einging? Ob er erwartet hat, noch
größere Schätze zu erhalten?“
Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass die Männer, die auf
weitere Befehle warteten, im Saal stehen geblieben waren und ihn
aus unverständnisinnigen Augen anstarrten wie einen Fantasten,
der aus irgendeinem Grund von einer Entscheidung, die in der Zukunft
lag, sprach, als hätte sie schon längst jemand vor ihm
gefällt. Die Goldschüssel, die er noch immer zwischen
den Händen hielt, fühlte sich kühl, schwer und unnachgiebig
an: so wie es jemand erwartete, der einen ähnlichen Gegenstand
mit den Fingern berührte. „Ihr könnt gehen.“
Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Gold besessen, dachte
er bei sich. Wahrscheinlich muss ich jetzt eine Expedition
ausrüsten,
um möglichst bald zum Palast dieses Drachen aufzubrechen. Vermutlich wird
es der Palast im Dach der Welt sein. Es wird Monate, vielleicht sogar Jahre
dauern, bis wir ihn erreichen. Ob der Fürst selber voranreitet oder einen
Vertreter schickt? Im Traum kann man leicht einen Ort wechseln. Ehe man sich
besinnt, hat man eine Strecke von tausend Li zurückgelegt. Aber dieser
Traum unterscheidet sich von allen anderen. Es scheint, als könnte ich
nicht darauf warten, bis sich das Traumbild von allein verändert.
Langsam, überaus konzentriert legte er die Goldschale in die
Truhe zurück, der er sie entnommen hatte. Natürlich standen
sie noch alle an Ort und Stelle. Ihm waren doch noch nicht einmal
die Gewohnheiten des Fürsten vertraut, dessen Gesicht er trug.
Genauso wenig wusste er sich in seinem Palast zu bewegen oder die
Namen von Beamten oder Bediensteten, an die er sich richten konnte.
Seine langen, klauenartigen Fingernägel bohrten sich in die
zahlreichen Stoffahnen seines schweren Gewandes, während er
behutsam, aber sonderbar zielbewusst auf den Ausgang zustrebte.
Neun Minister warteten auf den König. Welcher Kaiser hätte
je in größerer Pracht Hof gehalten als dieser Fürst?
Sie verbeugten sich tief, als er in ihre Mitte trat. Es wurde ihm
kaum bewusst, dass er die Hände an seinen Kopf hob, als wollte
er sich vom richtigen Halt seines perlengeschmückten Hutes
vergewissern. Aber die Kammerdiener, die ihn auf verwirrende Weise
unbeachtet begleitet hatten, nahmen ihm diese Mühe ab. Befangen
studierte er die ernsten Gesichter der Gestalten.
„Der Drache, der den Namen die Nachsichtige Herrscherin trägt, lädt
den Souverän von Hwai zu Friedensgesprächen zum Tage Tong-kin ein.
Wann auch immer das sein mag ...“ Ob sich unter den Männern, die
ihn so aufmerksam betrachteten, ein Dämon in Menschengestalt verbarg? Über
diesen plötzlichen Einfall belustigt, hatte er vergessen, was er ihnen
eigentlich mitteilen wollte. „Tausend Pfund an Schätzen hat er geschickt.“
„Die Geschenke könnten Blendwerk sein, edler Herr“, plärrte
eine Stimme.
Eine andere schnarrte: „Ihr dürft dieses Angebot nicht
annehmen, mein Fürst.“
„Es könnte eine Falle sein“, erklärte eine dritte. „Viele
Länder sind durch trügerische Friedensangebote und Intrigen übernommen
worden.“
„Ihr könnt einen hohen Preis aushandeln, mein König“,
schlug eine vierte vor.
„Wenn Ihr die Drachen dazu bringt, ihre Brut freiwillig auszuliefern“,
meinte ein Fünfter elegant, „könnte dies Leben und Kosten sparen.
Die Jagdunternehmen sind sehr aufwendig ...“
Der Kopf schien Lu-Yang von all diesem Gerede zu schwirren. Ungeduldig
hob er die Hand und brachte die Minister zum Schweigen, indem er
jeden einzelnen eingehend ins Auge nahm. „Ich werde hinreisen.
Ihr solltet nur dafür sorgen, dass der Tross pünktlich
eintrifft. Es ist mir gleich, wer oder wie viele mich begleiten.
Ich bestehe nur auf der Bedingung, dass die einzigen Waffen, die
den Tross verstärken, dazu dienen, Däm... ich meine,
Räuber oder Hinterhalte abzuwehren. Ein ehrenhaftes Angebot
verdient es, dass ich mit der gleichen Ehrenhaftigkeit das verlangte
Entgegenkommen aufwende.“
Damit drehte sich Lu-Yang auf dem Absatz um. Die seidenen Pantoffeln,
in denen seine Füße steckten, glichen weniger Schuhen
als ausladenden Stelzen, die ihn größer und würdiger
erscheinen lassen sollten. Dass er darauf nicht zu Boden stürzte,
grenzte fast an ein Wunder. Aber die Kammerdiener begleiteten ihn
wie Schatten. Auf gleiche eigentümliche Weise war er sich
bewusst, dass er diese Worte nur dahergesagt hatte, weil es seine
Rolle verlangte. Eigentlich war er außerstande, sich vorzustellen,
dass das Angebot ohne jeden Hintersinn gemeint war. Genaugenommen
fühlte ihn fast grenzenlose Sicherheit aus, dass die abschlägige
Entscheidung die bessere gewesen wäre. Wie groß die
Verzweiflung der Drachen sein musste, sich der Demütigung
zu unterziehen, sich auf einen Handel mit Menschen einzulassen,
mochte er ahnen, aber kaum ermessen. Genau wie alle anderen Fürsten
musste er einen Frevel begangen haben, auf den der Kaiser die schlimmste
Strafe ausgesetzt hatte. Wie war noch sein Name? Ssi-Wu-Ti?
Lu-Yang
nahm an den höfischen Ritualen teil, ohne sich an
komplizierte Zeremonien zu halten. Allerdings war er darüber
verwundert, dass dieser Traum eine strenge Chronologie besaß:
Wie Perlen an eine Kette reihten sich zusammenhängende Ereignisse
aneinander, ohne dass er eines überspringen konnte. Manchmal
hatte er sich gefürchtet wach zu werden, bevor die Expedition
starten konnte. Doch nie verloren sich die Bilder in die undeutlichen
Zerrbilder, wie es Träumen zu eigen war, die das Bewusstsein
des Schläfers auch manchmal ohne seinen Willen abzuschütteln
versuchte. Lu-Yang nutzte diese Zeit dazu, sich im Palastbezirk
mit seinen Stallungen, dem Harem, den weitläufigen Gärten
oder den Tempeln umzusehen. Dieses Verhalten stieß keineswegs
auf Missbilligung oder Verwunderung; vielmehr schienen ihn Höflinge
und Beamte mit gleichbleibender Höflichkeit zu empfangen und
seine Fragen zu beantworten. Lu-Yang war selten in der Lage, wirklich
zuzuhören. Er war viel zu sehr in die andauernde Verwunderung über
die maßlose Detailfülle seines Traumes verstrickt.
An einem späten Abend, als eine prächtige Teegesellschaft
sich anscheinend die Zeit in der künstlichen Landschaft des
Palastgartens vertrieb, saß Lu-Yang benommen vom Pflaumenwein
am Tisch und ließ seine Augen dem Lauf eines Miniaturflusses
folgen. Die Sonne stand schon tief über den winzigen Steingebirgen
des Gartens.
„Ich wünschte, ich könnte erwachen“, sagte er laut.
Hübsche, sorgfältig geschminkte Gesichter waren ihm voll
Aufmerksamkeit zugewandt. „Was sagst du, strahlender Lu-Yang?
Dieses Paradies hast du geschaffen.“
Plötzlich ernüchtert drehte er das Gesicht. Eine höfisch
gekleidete Dame, dem reichen Schmuck nach vielleicht eine Favoritin,
blickte ihn lächelnd an. „Heute ist der letzte Abend
vor deiner Reise. Wenn ich morgen erwache, wirst du längst
aufgebrochen sein. Warum bist du nur so abwesend, mein geliebter
Fürst?“
Lu-Yang spürte, wie sich sein Herz unter den seidenen Bahnen
seines Gewandes zusammenschnürte. „Wie könnte ich
es dir erklären, mein wunderschönes Traumgebilde.“
„So hast du mich noch nie genannt.“ Sie lächelte noch süßer.
„Ich würde dich gerne auf dieser Reise mitnehmen.“ Betrübt
schüttelte er den Kopf. „Aber ich kann nicht. Alles, was jetzt geschieht,
ist schon einmal geschehen. Verstehst du?“
„Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.“
Resigniert winkte er ab. „Wie solltest du es auch verstehen
können? Ich würde dir gerne den Moment versprechen, an
dem ich zurückkehre.“ Er machte eine Pause. „Ich
wünschte, mein Herz wäre so jung, wie mein Gesicht zu
sein scheint.“ Seufzend wandte er die Augen zu einem vergoldeten
Schälchen aus weißem Porzellan, das eine Neige von Pflaumenwein
enthielt. Aber dieser Wein machte nicht wirklich betrunken.
Lu-Yang dachte darüber nach, ein Experiment zu wagen. Es musste
doch einen Weg geben, den Aufbruch der Expedition im frühen
Morgengrauen zu verschlafen. Aber selbst wenn er sich die Ohren
mit Talg zustopfte und hoffte, so den Weckruf des Dieners zu verpassen,
was würde er dadurch gewinnen? Eine Verzögerung? Die
Expedition fand statt. Es gab keine Möglichkeit, sich ihr
zu entziehen.
Obwohl noch in den Frühdunst einer kühlen,
erfrischenden Morgendämmerung gehüllt, glich der Garten
einem Heereslager. Fast hundert Begleiter samt Pferden und Proviant
und ebenso viele Bedienstete schienen die Ankunft des Fürsten
schon ungeduldig zu erwarten. Ein Mann, in dem er einen der Generäle
erkannte, die seine Truppen befehligten, trat ihm in Prunkrüstung
entgegen.
„Die Götter segnen Euch, Majestät. Die Luftschiffe stehen zum
Abflug bereit. Wenn die Witterung so günstig bleibt, wie die Meteorologen
prognostizieren, werden wir in spätestens zwei Tagen am Ziel sein. Für
alle Fälle haben wir drei Tage für den Flug angesetzt.“
Lu-Yang war nicht sofort imstande zu antworten. Seine Augen hatten
sich an den unförmigen, gebauschten Umrissen von Geräten
festgesaugt, die er für Zelte gehalten hatte. Tatsächlich
schienen sie sich von Augenblick zu Augenblick aufzublähen
wie Wasserblasen. Fassungslos befeuchtete seine Zunge die spröden
Lippen. „Habe ich diesen Pomp tatsächlich angeordnet?“,
gelang es ihm endlich hervorzubringen. „Ein Drittel dieser
Gesandtschaft ist groß genug. Bin ich denn Ssi-Wu-Ti? Ich
will keinen Heeresverband zum Dach der Welt verlegen. Nicht als
Angriffsverband, als Delegation kommen wir!“ Der Fürst
ballte die Hände zu Fäusten. „Ich möchte keinen
Waffenrock sehen!“
Der General erbleichte unter seinem bronzenen Helm. „Es sei
Euer Wille“, entgegnete er nur. „Aber vorher will ich
mich von jeglicher Schuld entledigen für das, was ich nicht
verhindern kann. Ich habe Euch gewarnt, Majestät.“
„Was geschieht, ist Schicksal. Niemanden wird eine Schuld treffen. Die
traf nur unsere Vorgänger.“
„Die Götter sind uns gnädig gestimmt, die Opfer sind alle angenommen
worden!“, rief eine Stimme von Weitem.
Als zahllose Hände Lu-Yang
in die prächtig ausgestattete
Gondel eines der drei Luftschiffe halfen, war der Tross wunschgemäß verkleinert
worden. Diese unglaublichen Schiffe glichen Booten, die nur von
heißer Luft in die Höhe getragen wurden. Ein Apparat
erhitzte die wabernde Luft, die gewaltige schimmernde Hüllen
in Form von Wolken und Tigern füllte. Allein Taue hielten
die Fahrzeuge am Boden fest. Wäre der Tross, wie aus irgendwelchen
Gründen von hohen Beamten so geplant, vollzählig aufgestiegen,
hätten diese wundersamen Fahrzeuge in der Luft einen tanzenden,
treibenden Zug aus seidigen ätherischen Gebilden geschaffen:
ein Anblick, der am Boden sicher Rufe der Verwunderung und des
Erstaunens ausgelöst hätte. Überall wehten Banner
mit dem Standartenzeichen Lu-Yangs.
„Los!“, rief dieser wie berauscht. Anders als bei der Traumreise,
die er gemeinsam mit Bixie in eine ferne Vergangenheit unternommen hatte, spürte
er den Wind auf den Wangen. Während die Gondel höher stieg und eine
Landschaft enthüllte, die der im Traum gesehenen mit ihren viereckigen
Städten verblüffend ähnlich war, überfiel ihn leichter
Schwindel. Mit der aufsteigenden Sonne legte er sich endlich. Lu-Yang war viel
zu überwältigt, um sich um seinen sicheren Halt zu fürchten.
Nebel zerflossen und ließen eine Flusslandschaft voll wunderschöner,
tiefgrüner Hänge entstehen. Er hatte keine Kraft mehr, sich gegen
die Tränen zu wehren, die über seine jungen, bärtigen Wangen
rollten. Ergriffen starrte er in die Ferne, während der Navigator die
Gondel den Flusslauf entlang lenkte.
„Eine so unglaubliche, so mühelose Reise war nur in den Tagen möglich,
als die Vereinigung mit den Göttern noch junge Vergangenheit war. Warum
ist nur alles vergeudet worden? Warum?“
„Von wem, erlauchter Fürst, sprecht Ihr?“ Der General betrachtete
seinen König besorgt. „Ich sehe nur Veränderungen, die der
Stabilität dieses Fürstentums große Vorteile bringen.“
„Natürlich, General Wong.“ Welchen Zweck hatte es zu erklären,
dass nur noch das Wirken dämonischer Kräfte diese Pracht und Herrlichkeit
zusammenhielt.
Der Wind war sehr günstig. Gelegentlich klärte ihn der
General darüber auf, dass die Treibstoffvorräte bei dieser
Witterung für mehr als das Doppelte der Wegstrecke reichen
würden. Sie flogen Tag und Nacht, ohne dem Boden jemals näher
zu kommen als einige hundert Schritt. Manchmal entfernten sich
die Schiffe ein wenig voneinander und bildeten eine lange Kette.
Gelegentlich trieb der Wind ihnen sogar die Jubelrufe von Menschen
entgegen, die auf ihren Feldern den Tross des Fürsten in der
Luft flimmern sehen konnten. Bald wurde das Gelände steiler
und die Wangen der Berge zerklüfteter. Jetzt hatte jener Teil
der Reise begonnen, der den Navigatoren größte Aufmerksamkeit
und ihr ganzes Können abverlangte. In diesen Höhen glichen
die Ballons, die Wolken oder Tigern nachgebildet waren, prallgefüllten
Blasen.
„O mein Fürst! Seht, seht!“ Der Mann, der hoch in der Takelage
der fürstlichen Gondel die Landschaft mit einem Spähgerät abgesucht
hatte, konnte seine Aufregung kaum verhehlen. „Der Palast der Nachsichtigen
Herrscherin! Wir scheinen nicht die Ersten zu sein, Majestät. Ich kann
in seinen Gärten die Hüllen anderer Luftschiffe sehen.“
„Wer hat davon gesprochen, dass wir die Einzigen sind, die eingeladen
wurden?“ Lu-Yangs Pupillen folgten den nackten, karsten Höhenzügen
der Bergriesen. Weiße Kronen bedeckten ihre eisige Schönheit. In
dieser Höhe war die Luft so kalt, dass sie sich in Felle hüllen und
ihre Gesichter mit Schals vor Erfrierungen schützten mussten. Lu-Yang
entdeckte zunächst nur eine glitzernde Kuppel, ehe er nachvollziehen konnte,
wovon der Späher sprach. „Ich könnte den Göttern ohne
zu zögern mein Leben anvertrauen. Womit habe ich es verdient, so etwas
Schönes und Erhabenes anschauen zu dürfen!“
„Dieser Palast ist vielleicht etwas größer, aber er unterscheidet
sich in nichts von den übrigen.“ Die Stimme des Generals war von
leichtem Unverständnis gefärbt.
Auf einem der völlig ebenen, von eisigen Winden polierten
Plätzen ging die Eskorte aus dem Hwai-Land nieder. Eine Delegation
schien ihre Ankunft schon lange beobachtet zu haben. Lu-Yang erkannte
erst, dass es sich nicht um menschliche Wesen handelte, als die
Besatzung aus der Hülle Luft entweichen ließ, damit
das Fahrzeug drastisch an Höhe verlor. Gedrungene Körper
ließen Erinnerungen an den Bixie wach werden. Doch glichen
sie eher gewaltigen, geschnitzten Jadestatuen als Wesen aus Fleisch
und Blut. Wie eine Armee aus Puppen, die mit Geisterenergie aufgeladen
waren, führten sie die Ankömmlinge auf die Halle des
Palastes zu. Sie erwiesen ihnen alle Formen von Ehrerbietigkeit,
ohne jedoch ein Wort an die neu eingetroffenen Gäste zu richten.
Es überraschte Lu-Yang nicht wirklich, Dutzende von in Gold-
und Silberbrokat gehüllte Menschen zu sehen. Selbst das Gefolge
schien seinen Herren kaum an Pracht nachzustehen. Sie hatten also
alle die Einladung des Drachen angenommen und warteten mit mehr
oder minder verhohlener Ungeduld auf das persönliche Erscheinen
ihrer Gastgeberin. Lu-Yang gebot einem Teil seiner Eskorte zu den
Fahrzeugen zurückzukehren; die übrigen - einige der Minister
und der General - ließen sich indes von den Jadelakaien bedienen.
Gerne hätte sich der Fürst vom Hwai unter sie gemischt,
um die anderen Gäste ganz unauffällig in Augenschein
zu nehmen. Manche von ihnen nämlich trugen auffällige
Amulette und Stäbe bei sich. Ein unangenehmer Verdacht keimte
in ihm auf, dass es sich um getarnte Dolche und auch andere Waffen
handelte, die sie so gegen ausdrückliche Bitte ins Schloss
geschmuggelt hatten. Jeder einzelne dieser Fürsten, manche
sogar in Begleitung ihrer Hauptfrauen, wirkten so gedunsen und
selbstherrlich, als hielten sie hier eine Audienz ab. Dabei waren
sie wie alle anderen nur Gäste auf fremdem Territorium. Im
Laufe des Abends trafen weitere ein. In Zimmern voller Prunk und Überfluss
fiel es leicht, auf den vereinbarten Zeitpunkt zu warten.
Am Nachmittag
des nächsten Tages, als er durch Fenster aus
klarem Kristall über die ferne schroffe Landschaft dieses
mächtigen Gebirges blickte, fühlte Lu-Yang sehr deutlich,
dass etwas Außerordentliches bevorstand. Sein Herz klopfte
in banger, aber aufgeregter Erwartung. Sein Verstand war außerstande
nachzuvollziehen, dass Menschen wie er in der Lage waren, Paläste
von so einzigartiger Schönheit wie Tierbauten auszuheben und
die Bewohner wie Wildschweine oder Bären zu jagen. Welche
unglaubliche Selbstüberschätzung, was für ein unerbittlicher
Zwang war dazu notwendig, die eigenen Grenzen so schamlos zu überschreiten?
Lu-Yang spürte, wie seine Zähne vor Grauen gegeneinander
klickten.
Unbemerkt war eine winzige Gestalt an der Tür erschienen und
deutete eine Verbeugung an. Diesmal sprach sie mit sehr deutlichen
und klar verständlichen Worten: „Meine Herrin erwartet
Euch demütig, mein erlauchter Fürst.“
Der Herrscher über das Fürstentum vom Hwai, dessen Identität
Lu-Yang angenommen hatte, drehte sich zögernd vom Fenster
weg. Seine Augen wirkten, als wäre er gerade aus einem Traum
erwacht. „Weißt du, was geschehen wird?“
Das Wesen verbeugte sich höflich. „Nein, Herr, ich
bedaure.“
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