S C I E N C E # 46

... aus Raumfahrt, Wissenschaft und Forschung


BAIKAL

eine Rakete oder ein Flugzeug?

 

Geniestreiche von Erfindern haben nicht nur bei Daniel Düsentrieb sondern auch in der Technik oft den außergewöhnlichen Vorzug denkbar "einfach" konstruiert zu sein.
Es scheint ganz so, als sei auf dem diesjährigen (44.) Pariser Aerosalon, der bekannten internationalen Ausstellung für Luft- und Raumfahrt, ein solcher Geniestreich von KHRUNISCHEW präsentiert worden. Der erfolgreiche russische Raumfahrtkonzern präsentierte zur großen Verblüffung auch der Insider unter den Besuchern eine wiederverwendbare Trägerrakete des Typs BAIKAL in Originalgröße:

BAIKAL-Präsentation beim Pariser AERO-Salon 2001. copyright Fliegerrevue

Bisher hatte die Firma nur BAIKAL-Modelle in "Revell"größe gezeigt und wurde daher von der Fachwelt mit ihrem neuen Projekt nicht recht ernst genommen. Nun aber sieht die Geschichte anders aus:
Ein Erststufenbooster, den man mehrfach ins All schießen kann, das ist bisher nur ein Traum zahlloser Ingenieure von Ost nach West gewesen. Die Amerikaner haben zwar den Space Shuttle, aber mit ihm kleinere Nutzlasten ins All zu bringen, ist viel zu aufwendig und kostspielig. Die Europäer arbeiten derzeit nur an einer wiederverwendbaren FREGAT-Oberstufe (Science #39 berichtete), also dem Teil einer Trägerrakete, der NACH dem Abtrennen der Erststufe die Nutzlast ins All befördert.
Eine Kombination von wiederverwendbarer Erst- und Oberstufe wäre natürlich der Idealfall... und würde die Kosten für die Beförderung von Nutzlasten ins All erheblich senken. Eine Zusammenarbeit der Russen mit den Europäern böte sich hier geradezu an, doch ist das noch Zukunftsmusik.


Die Idee hinter BAIKAL

Schon vor einigen Jahren hatte KHRUNISCHEW eine neue Familie von Trägerraketen vorgestellt, die ANGARA-Serie. Die Raketen sollten vom in Nordrussland gelegenen Plesezk starten können. Damit wäre man von den hohen kasachischen Geldforderungen für Starts von Baikonur befreit.
Von ursprünglich sieben sind im Laufe der weiteren Entwicklung heute noch fünf verschiedene Konstruktionen übrig geblieben.
BAIKAL als ANGARA-ErststufeEine davon ist die ANGARA 1-VA, die mit wiederverwendbaren Boostern ausgestattet werden soll. Neben der Senkung der Startkosten gibt es einen weiteren erheblichen Vorteil dieser Methode: Aufgrund der geographischen Lage von Plesezk kann man derzeit Starts nur in wenigen Richtungen durchführen. Weil man andernfalls riskieren würde, dass die Erststufenreste auf bewohnte Gebiete in Nordrussland, Norwegen, Schweden oder Finnland fallen würden. Mit einem rückkehrfähigen Booster wäre man aus dem Schneider und könnte z.B. Satelliten auch in sonnensynchrone Umlaufbahnen schicken.

Die Grundidee bei KHRUNISCHEW war 1998 deshalb eine Raketen-Erststufe herzustellen, die nach ihrer Mission wie ein Flugzeug zur Erde zurückkehrt. Dieses Gerät sollte aus einem Booster, wie sie bei den bewährten Trägerraketen des Typs PROTON oder ENERGIJA angebracht sind, bestehen. Der Konzern brauchte, suchte und fand Unterstützung in der Entwicklung seiner Ideen bei der Firma NPO MOLNIJA, deren Chefkonstrukteur Losino-Lusinski u.a. den russischen Shuttle BURAN mitentwickelt hatte.


Wie soll eine BAIKAL-Stufe aussehen?

Feste unverrückbare Tragflächen wie beim amerikanischen Shuttle kamen für ein Fluggerät nicht in Frage, welches zunächst in der Anfangsphase der Mission die Aufgabe eines Boosters übernehmen muss, also eines starken Raketenbeschleunigers. Die Flügel würden sofort abbrechen. BAIKAL darf daher beim Start nicht viel anders beschaffen sein als die uns wohlbekannten zigarrenförmigen Booster, z.B. der PROTON-Rakete oder des SPACE SHUTTLES.

Nun soll eine BAIKAL-Stufe aber wie ein Flugzeug zur Erde zurückkehren, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat. Eine unveränderte "Zigarre" würde zwar auf einer ballistischen Flugbahn aufgrund der Erdanziehungskraft von selbst zur Erde zurückkehren, aber leider unangespitzt und ungebremst auf den Grund aufprallen (ob fester Grund oder Wasser spielt bei den auftretenden Aufprallgeschwindigkeiten keine Rolle mehr) - und peng! das war's dann, die "Zigarre" würde sich in ihre "Tabak"-Bestandteile auflösen, und damit das traurige Schicksal aller bisher gebauten Erststufenbooster teilen.
Will man das vermeiden, müssen also in dieser Phase der Mission Flügel und ein Antrieb her - zum kontrollierten Fliegen und zum kontrollierten Landen.
Also, ich weiß nicht, wie Ihr es seht, doch ich finde die Lösungen, die sich die Menschen in den Konstruktionsbüros von KHRUNISCHEW & NPO MOLNIJA haben einfallen lassen, schlichtweg genial:

  • Am "Heck" von BAIKAL befindet sich ein ganz 'normales' Raketentriebwerk
  • Auf dem Rücken des Boosters befindet sich ein schwenkbarer Tragflügel. Beim Start liegt er in Flugrichtung an, bei der Rückkehr wird er um 90 Grad gedreht und arretiert.
  • In den "Bug" von BAIKAL hat man ein 'normales' Düsenstrahltriebwerk eingebaut. Wenige Kilometer über dem Boden wird es in Betrieb genommen.

Und so sieht eine BAIKAL-Stufe im Detail aus:

Das BAIKAL-Konzept: ein schwenkbarer Tragflügel - genial! - copyright D. Röttler

BAIKAL ist damit Raketenstufe und lenk- wie landebares Flugzeug in einer Gestalt geworden.


Die Eckdaten einer BAIKAL-Stufe:

Höhe:
27,10 Meter

Gewicht:
130 Tonnen Startmasse
(Leergewicht: 17,8 t)

Durchmesser:
2,90 m

Spannweite des Tragflügels:
17,10 m

Starttriebwerk:

Baureihe RD-191M,
hergestellt von ERGOMASCH

Schubkraft:
196 Tonnen = 1960 kN

Treibstoffe:
110 t flüssiger Sauerstoff & Kerosin

Strahltriebwerk:

Baureihe RD-33*,
hergestellt von TUMANSKI

Schubkraft: 5 t

Treibstoff: 2,9 t Kerosin

Fahrgestell:
Typ JAK-42

(Von dem regionalen Verkehrsflugzeug LAKOWLEW JAK-42 entliehen)

* Zwei dieser Motoren werden auch im Jagdflugzeug MIG 29 verwendet.

Ab 2004 soll die BAIKAL-Stufe zur Verfügung stehen, entweder als Erststufe für niedrige Umlaufbahnen oder als Startstufe für mittlere und schwere Trägerraketen.


Der Ablauf einer Mission

In der einfachsten Variante wird auf einer (1) BAIKAL-Stufe eine (1) ROKOT/BREEZE-Oberstufe (siehe Para #39 Science) sitzen, die eine (1) Nutzlast (etwa einen Satelliten) enthält. Die Oberstufe wird in einer Höhe von ca. 60 km über dem Erdboden abgetrennt und befördert die Nutzlast weiter in den vorgesehenen Orbit. Der BAIKAL-Booster fliegt unterdessen auf einer ballistischen Flugbahn (d.h. ohne weiteren Triebwerkseinsatz) mit einer Geschwindigkeit von MACH 5,64 weiter auf 95 km Höhe, den höchsten Punkt ihrer Bahn und fällt dann zurück zur Erde. In 80 km Höhe wird mit einer 90 Grad Drehung der Tragflügel ausgeschwenkt; dies bewirkt aus aerodynamischen Gründen eine geringfügige Abbremsung auf MACH 5,5.

Die zum Flugzeug gewordene Raketenstufe wird in eine normale Fluglage gebracht und es folgt ein Wendemanöver in Richtung des ca. 480 km Luftline entfernten Landeortes Plesezk. Wie ein Segelflugzeug gleitet BAIKAL nun herab und wird durch die Atmosphäre abgebremst: in 30 km Höhe auf nur noch MACH 1,7. Nun ist es Zeit das Strahltriebwerk zu zünden. Dazu öffnet sich eine Klappe an der Spitze der Rakete und gibt die Lufteinlassöffnung des Düsentriebwerks frei. Über eine sehr steile Kurve beginnt die Landephase. Die Fluggeschwindigkeit beträgt jetzt noch 490 km/h. Mit 280 km/h setzt es auf; für die Landung benötigt BAIKAL eine Bahn von mindestens 1200 m Länge;. Ob die BAIKAL-Stufe nun in Plesetzk landen wird oder auf einem gewöhnlichen Flugplatz anderswo und dann auf anderen Wegen (Schiene, Straße) dorthin zurückgebracht wird, entzieht sich meinem derzeitigen Kenntnisstand.

Bereits nach kurzer Zeit ist die Stufe wieder einsatzbereit für die nächste Mission, bis zu 100x die Rakete selbst, bis zu 20x das Raketentriebwerk.

Bei Missionen mit den schwereren Exemplaren der ANGARA-Trägerfamilie werden zwei bzw. vier BAIKAL-Erststufen verwendet.


Gibt es eine Zukunft für BAIKAL?

Obwohl das BAIKAL-Projekt wie das Ei des Kolumbus erscheint, birgt es doch große Risiken für die Herstellerfirmen KHRUNISCHEW & NPO MOLNIJA.
Die Situation auf dem Trägerraketenmarkt ist derzeit nicht gerade günstig, der 11. September wird die Lage noch verschärft haben.
KHRUNISCHEW hatte mit LOCKHEED eine Vereinbarung getroffen, dass die US-Firma 68 Mio. $ in die Entwicklung der ANGARA-Raketen steckt und dafür das Recht an der Vermarktung bekommt. Die ANGARA sollte dann in das ILS-Programm (International Launch Services) integriert werden. Bei dieser Vereinbarung war die BAIKAL aber nicht inbegriffen. Die Russen sind clever genug um sich dazu etwas einfallen zu lassen und LOCKHEED ein verlockendes Angebot zu machen.

Aber man sieht sich auch anderweitig nach Partnern um.
BOEING will wiederverwendbare Booster für die US SPACE SHUTTLES entwickeln...

Und Juri Koptew, der Chef der russischen Raumfahrtbehörde ROSAWIAKOSMOS, bot auf dem Pariser Aerosalon der ESA eine feste Partnerschaft an: Man könnte doch die Feststoffbooster der ARIANE 5 durch die wiederverwendbaren Flüssigkeitsbooster der BAIKAL ersetzen... eine einzelne BAIKAL ist zwar etwas kleiner und schubschwächer als einer der beiden gegenwärtigen Feststoffbooster der ARIANE 5, doch drei oder vier BAIKAL rings um die Hauptstufe gruppiert... damit könnten die Leistungsfähigkeit der ARIANE 5 gesteigert wie die Startkosten gesenkt werden...

BAIKAL als ARIANE-Erststufe

Die ARIANE stieße dann in Nutzlastklassen vor, die mit den heutigen Techniken überhaupt noch nicht erreichbar sind. In Verbindung mit neuen stärkeren Oberstufen, die man ja bei ARIANESPACE entwickeln will, entstünde so eine Schwerlastrakete mit enormer Leistungsfähigkeit, einer gewissen Ökotauglichkeit und Konkurrenzlos niedrigen Preisen.

Ein äußerst attraktives Angebot also, zumal LOCKHEED und ARIANESPACE Erzfeinde sind...

Eigentlich müsste Koptew mit seinem Vorschlag offene Türen eingerannt haben, denn die Europäer dachten in den 80er Jahren selbst an die Entwicklung einer wiederverwendbaren Erststufe, scheiterten damals aber aus technischen und finanziellen Gründen. Inzwischen steht ARIANESPACE unter großem Konkurrenzdruck im internationalen Satellitengeschäft. Die bewährte ARIANE 4 wird bald nicht mehr zur Verfügung stehen! Und die ARIANE 5 ist nicht so sicher, wie man es sich vorgestellt hat, was nach der Katastrophe beim Jungfernflug auch die jüngste Fehlmission im Juli beweist: beide Nutzlasten erreichten nicht ihre vorgesehene Umlaufbahn.

Man muss abwarten, inwieweit sich die derzeitigen europäischen Bestrebungen nach Autonomie und Autarkie gegenüber einer, in meinen Augen sinnvolleren Kooperation mit Ländern, die die benötigte Hardware bereits besitzen, durchsetzen werden.


Quellen für Text und Bilder:
Flugrevue 09+10/2001,
Fliegerrevue 08+10/2001,
Raumfahrt Concret 3/2001

(Ein Dank für's Ausleihen an Schalmirane! J )

Joachim "Joe, the Nighthawk" Kutzner


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Letztes Update dieser Seite am 12.07.2003